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Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)

Titel: Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kathrin Passig , Aleks Scholz
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Betrachtung von Einzelfällen von Bedeutung – kleine Eltern setzen selten große Kinder in die Welt und große Eltern selten kleine. Mittelt man jedoch über ganze Völker, so verschwinden solche individuellen Unterschiede weitestgehend. Inwieweit die durchschnittliche Körpergröße in einer großen Bevölkerungsgruppe von den Genen unabhängig ist, kann man zum Beispiel überprüfen, indem man zwei Probandengruppen vergleicht, die zwar ähnliche mittlere genetische Voraussetzungen aufweisen, aber längere Zeit rigoros voneinander getrennt waren. Eine solche Trennung wurde, ohne Absprache mit der Wissenschaftswelt, über vierzig Jahre in Deutschland aufrechterhalten. Das Ergebnis dieses «Experiments»: Die Menschen in der DDR waren am Ende im Mittel etwa einen Zentimeter kleiner als die im Westen Deutschlands. Noch drastischer fallen die Unterschiede zwischen Nord- und Südkorea aus. Daniel Schwekendiek von der Universität Tübingen fand heraus, dass sechsjährige Jungen in Nordkorea im Jahr 1997 mehr als 15 Zentimeter kleiner waren als ihre Altersgenossen in Südkorea. Weil Nord- und Südkoreaner sich aber innerhalb einiger Jahrzehnte nicht genetisch auseinanderentwickelt haben können, müssen andere Einflüsse für diese Unterschiede verantwortlich sein. Das Erbgut, so wird heute meist angenommen, legt nur die Obergrenze des Wachstums fest. Wie weit man dann tatsächlich in die Höhe schießt, wird auf andere Art und Weise bestimmt.
    Menschen wachsen wie alle Lebewesen nur, wenn man ihnen Dinge zuführt, aus denen sie neue Zellen bauen können: Eiweiße, Kohlenhydrate, Fette, außerdem größere Mengen Luft und Wasser und zudem noch eine lange Liste von sonstigen Stoffen. Dass die Zusammensetzung und Menge der Nahrung Auswirkungen auf die mittlere Körpergröße hat, steht heute außer Frage. Ernährung ist aber bei weitem nicht der einzige Faktor. Krankheiten zum Beispiel hemmen das Wachstum, weil das Kind seine Kraft zu ihrer Bekämpfung einsetzt und kaum noch Energie zum Größerwerden zur Verfügung hat. Deshalb spielt offenbar die Krankheitsvorsorge eine Rolle, also Impfungen, Vorsorgeuntersuchungen und regelmäßige Überwachung der Gesundheit der Kinder. Weiterhin scheint die Größe der Menschen von so schwer messbaren Dingen wie Zuneigung, Geborgenheit und Glück abzuhängen. Maria Colwell, ein in den 1960er Jahren geborenes englisches Mädchen, hörte, so sagt man, jeweils mit dem Wachsen auf, wenn man sie zu ihren Eltern ließ, weil es ihr dort schlecht erging. Brachte man sie ins Krankenhaus, wurde sie umgehend größer. Andere Kinder wie Oskar Matzerath sind überzeugt davon, dass Großwerden sich nicht lohnt, und auch Pippi Langstrumpf beschwor die erbsenförmigen Kindergötter: «Liebe kleine Krummelus, niemals will ich werden gruß!» Beide existieren jedoch nur in Büchern, weswegen ihre Meinung wohl nicht allzu viel Gewicht hat.
    Offenbar wird die endgültige Körpergröße also von einer Ansammlung schwer fassbarer Faktoren bestimmt, die man in ihrer Gesamtheit als «biologischen Lebensstandard» bezeichnet. Nochmal zur Erinnerung: Dies gilt nur, wenn man über große Bevölkerungsgruppen mittelt, weswegen es meist unangebracht ist, sich bei seinen Eltern über unzureichende Nahrungszufuhr zu beklagen, nur weil man sich zu klein vorkommt.
    Die Fachleute für das Zusammenspiel zwischen Menschengrößen und Lebensstandard, zum Beispiel John Komlos von der Universität München oder der Amerikaner Richard Steckel, nennen sich «Auxologen». Ihr Ziel ist es nicht nur, die Ursachen des Wachstums herauszufinden, sondern, wenn das einmal bekannt ist, die Körpergrößen als Indikator für die Lebensqualität des Menschen zu verwenden. Das ist eine wichtige Aufgabe, denn um Glück und Wohlstand der Menschheit zu vermehren, muss man zunächst einen Weg finden, diese schwer messbaren Größen zu erfassen. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein wurden solche schwammigen Konzepte wie «gesamtgesellschaftliches Wohlbefinden» aus Mangel an Alternativen vorwiegend mit Hilfe von Daten aus der Wirtschaftsforschung erfasst. Man ging einfach davon aus, dass es den Menschen insgesamt besser gehen würde, wenn das Bruttosozialprodukt zunimmt. Leider hängen für die Lebensqualität ausgesprochen wichtige Faktoren wie die Verbrechensrate, die Sicherheit des Arbeitsplatzes oder die Nähe zum Schwimmbad nur sehr indirekt von reinen Wirtschaftsdaten ab. Daher wäre es wünschenswert, das Wohlbefinden der Menschheit

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