Lexikon des Unwissens: Worauf es bisher keine Antwort gibt (E-Book zu Print) (German Edition)
«Berlin. Kampf um Freiheit und Selbstverwaltung 1945 – 1946» werden als Belege für die Datierung auf die «Morgenstunden des 2. Mai» der romanartige und nicht sehr faktentreue Bericht «In zehn Tagen kommt der Tod» des Amerikaners Michael A. Musmanno sowie zwei Quellen aus dem Bestand des Landesarchivs genannt. Letztere erwiesen sich bei den Nachforschungen des Kreuzberg-Museums als unauffindbar, wie das Museum überhaupt Widrigkeiten bei der Archivrecherche beklagt, «die das normale Maß überstiegen». Die genannten Akten des Landesarchivs sind zwar mittlerweile wiederaufgetaucht, enthalten aber kein Material, das zur Klärung der offenen Fragen beitragen könnte.
Nachdem das Kreuzberg-Museum 1991 einen Aufruf in der Berliner Presse geschaltet hatte, meldeten sich zahlreiche Leser, von denen sich zehn erinnern konnten, mindestens bis zur Nacht vom 1. auf den 2. Mai im Tunnel gewesen zu sein. Ein Aufsatz aus dem Jahr 1950 datiert die Flutung sogar auf die Nacht vom 3. auf den 4. Mai; der Verfasser Gerhard Krienitz gab im Gespräch mit dem Kreuzberg-Museum an, der Tunnel sei am Morgen des 2. Mai noch voller Menschen gewesen, sodass eine Flutung zu diesem Zeitpunkt seiner Meinung nach viel mehr Todesopfer gefordert haben müsste.
Aber wie viele Todesopfer gab es überhaupt? Im August 1945 beantragte das Bestattungsamt Kreuzberg beim Bürgermeister die Zuteilung von Lkw-Kapazitäten, um «schätzungsweise 1 – 2000 Leichen aus dem S-Bahn-Schacht» zu bergen. Weil man zunächst davon ausging, der Tunnel sei während der Evakuierung geflutet worden, und auch weil die Begeisterung der Zeitungen für Berichte voller Leichenberge merkwürdigerweise im Sommer 1945 kaum geringer gewesen zu sein scheint als heute, ist in manchen Quellen von vielen tausend Toten die Rede. Bei den Aufräumarbeiten im Tunnel barg man jedoch nur um die hundert Opfer, die womöglich bereits vor dem Wassereinbruch tot gewesen waren. Zuvor wurden an den S-Bahnhöfen bereits vereinzelt Tote aus dem Wasser gezogen, sodass das Kreuzberg-Museum ein- bis zweihundert Opfer als realistische Annahme angibt.
Die offenen Fragen lauten also: Wann fand die Sprengung statt? Warum erinnert sich niemand an die Detonation oder die Druckwelle? Gab es einen Befehl zur Sprengung? Wenn ja, von wem wurde er erteilt und welchem Zweck sollte er dienen? Das zugängliche Quellenmaterial darf als ausgeschöpft gelten, die Augenzeugen werden von Tag zu Tag weniger, aber vielleicht verbirgt sich noch unausgewertetes Material in den Akten der Reichsbahn oder den sowjetischen Archiven. Bis zur Klärung der genannten Fragen schadet es jedenfalls nichts, auf der Fahrt zwischen Yorckstraße und Anhalter Bahnhof kurz die Tatsache zu würdigen, dass das Wasser des Landwehrkanals heute wieder dort fließt, wo es hingehört, und auch sonst vieles in Berlin besser eingerichtet ist als im Mai 1945.
Plattentektonik
Please do not attempt to stop continental drift by yourself.
T-Shirt-Aufschrift
Fragt man nach den wissenschaftlichen Erfolgsgeschichten des 20. Jahrhunderts, werden oft Quantenmechanik, Relativitätstheorie oder Raumfahrt genannt, aber viel zu selten die Plattentektonik. Dabei ist die Plattentektonik, die Geschichte von der Wanderung der Kontinente, die große vereinheitlichende Theorie zum Verständnis der Erde. Sie erklärt, wo Gebirge, Ozeane und die meisten Vulkane herkommen, wieso es Erdbeben nur in bestimmten Regionen gibt, weswegen eng verwandte Tierarten auf verschiedenen Kontinenten leben, warum bestimmte Steine da liegen, wo sie liegen, wieso die Ostküste Südamerikas genau an die Westküste Afrikas passt und vieles mehr. Kaum eine andere Theorie liefert auf einen Schlag so schöne Erklärungen für so viele rätselhafte Phänomene. Aber die Freude über die Plattentektonik ist nicht ungetrübt: Gleichzeitig wirft sie einige brandneue Rätsel auf, von deren Lösung die Wissenschaft weit entfernt ist.
Als «Erfinder» der Plattentektonik wird heute meist Alfred Wegener genannt, der Anfang des 20. Jahrhunderts zahlreiche Argumente für seine Theorie vorbrachte, wobei kluge Menschen wie Francis Bacon oder Benjamin Franklin schon Jahrhunderte vor Wegener über die Möglichkeit einer Kontinentaldrift spekulierten. Es dauert dann noch eine Weile, bis sich in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Plattentektonik allmählich durchsetzte – eine zähe Erfolgsgeschichte. Leider bewegen sich Erdteile langsamer, als das Gras wächst (ein paar
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