Liberty 9 - Todeszone
Kendira durch den Kopf. Ich werde nicht auf dem Stuhl enden! Dann lieber ein kurzes und schnelles Ende hier im Wald!
Schon wollte sie sich mit dem Mut der Verzweiflung auf Master Sherwood stürzen, als schräg hinter ihm aus den Sträuchern ein scharfer, schnappender Laut zu vernehmen war, augenblicklich gefolgt von einem hohen Sirren.
Kurz darauf bohrte sich irgendetwas in Sherwoods Rücken. Eine Kugel war es nicht. Und doch bäumte er sich auf, während die Luft plötzlich von einem seltsamen elektrischen Knistern erfüllt war.
Sein Körper wand sich und zuckte, als hätte ihn ein schwerer epileptischer Anfall befallen. Revolver und Taschenlampe entglitten seinen Händen, als er jede Kontrolle über seine Gliedmaßen verlor. Unter ersticktem Stöhnen und Röcheln stürzte er vornüber. Eine letzte Welle von Zuckungen ging durch seinen Körper, dann lag er still vor Kendiras Füßen.
Das Licht der Taschenlampe, die neben ihm auf der Erde lag und ihren Schein quer über seinen gekrümmten Körper warf, ließ jetzt zwei silbrige Drähte erkennen, die in Sherwoods Rücken knapp unterhalb der Schulterblätter aus dem Gewebe seiner roten Kutte hervortraten– und von dort in Richtung der Büsche liefen.
Das elektrische Knistern, das aus genau diesen Sträuchern gekommen war, erstarb. Dort trat nun eine hagere Gestalt zwischen dem Buschwerk hervor. Der Mann hielt einen plumpen schwarzen Gegenstand in der Hand, der wie eine Waffe mit einer seltsam kurzen, rechteckigen Mündung aussah.
Es war ein Taser, eine Para-Gun! Sherwood war von mehreren starken Stromstößen, die durch die Drähte geflossen waren, paralysiert und bewusstlos zu Boden gestreckt worden.
Kendira fasste sich als Erste. Blitzschnell bückte sie sich nach Sherwoods Revolver und richtete ihn auf den Mann, der zu ihnen trat.
Dante riss zur selben Zeit seine Taschenlampe hoch und leuchtete ihn an. Er glaubte, wie auch seine Gefährten, seinen Augen nicht trauen zu dürfen.
» Verdammte Scheiße! « , entfuhr es Zeno.
Vor ihnen stand Primas Templeton, der Oberste ihrer Oberen und uneingeschränkter Herr über Leben und Tod in Liberty9. Er ließ den Taser fallen und beschattete seine Augen mit einer knochigen Hand. Ein seltsam trostloses Lächeln lag auf seinem ausgemergelten Gesicht.
» Lass den Revolver sinken, Kendira. Es wäre nicht gut, wenn nun doch noch ein Schuss fällt. Sherwood wird noch eine Weile bewusstlos bleiben. Und von mir habt ihr nichts zu befürchten « , sagte er, um dann mit müder, brüchiger Stimme hinzuzufügen: » Jetzt nicht mehr. «
TOMAMATO ISLAND
Die Tür zur Galerie ging hinter Duke auf. Er drehte sich kurz um. Das Mondlicht fiel auf ein schlankes, stupsnasiges Mädchen mit rehbrauner Pagenfrisur. Der Reißverschluss ihres Overalls stand über der Brust ein gutes Stück offen und nackte Haut schimmerte im Ausschnitt.
Colinda.
Auch sie hielt einen Kaffeebecher in der Hand.
» Nicht gerade der erhebende Anblick, den ich erwartet hatte, als ich letzte Woche voller Vorfreude ins Lichtschiff stieg und glaubte, nun geht es endlich zum hochwürdigen Dienst in den Lichttempel « , sagte sie mit bitterem Spott, deutete mit der freien Hand in Richtung der Dunkelwelt am fernen Ufer und stellte sich neben ihn ans Geländer.
» Wahrlich nicht! « , antwortete er. » Weiß nicht, wann ich jemalsschwerer enttäuscht gewesen wäre als bei unserer Ankunft hier! «
Colinda schnaubte. » Wenn mich je etwas eiskalt erwischt hat, dann ist das die Sache hier mit Tomamato Island! «
Sie schwiegen einen Moment, vereint in ihrem tiefen Groll, und schlürften ihren heißen Kaffee. Dann sagte Colinda mit ratloser Miene: » Ich verstehe einfach nicht, warum die Oberen uns nicht von Anfang an gesagt haben, dass wir erst noch einige Monate hier im Großen Dampferzeuger verbringen müssen, bevor es endgültig zum Lichttempel geht. «
» Ist mir auch ein Rätsel « , erwiderte Duke. » Und es gefällt mir gar nicht. Denn was für einen Grund kann es geben, der es denOberen ratsam erscheinen lässt, uns nichts darüber zu sagen? «
Sie schwiegen wieder eine Weile, tranken ihren Kaffee in kleinen Schlucken und blickten gedankenverloren hinaus auf die dunklen Fluten, die mit leisem Rauschen die felsigen Ufer von Tomamato Island umspülten. Die Lichtkegel einiger weniger Scheinwerfer, die irgendwo an den Längsflanken des gewaltigen Inselkomplexes angebracht sein mussten, wanderten träge über das ufernahe Gewässer. Offenbar musste man auch
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