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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Kearney. Er kontrollierte die Nummer, die er gewählt hatte. »Sie haben kein Handy am Ohr«, sagte er. »Das ist keine Handynummer. Hallo?« Das Schweigen am anderen Ende dauerte an. Er bildete sich ein, jemanden atmen zu hören. »Sprake?« Nichts. Er unterbrach die Verbindung und stieg zum Bahnsteig der Victoria Line hinunter. Bei Green Park stieg er um und noch einmal bei Baker Street; er arbeitete sich im Zickzack auf das Stadtzentrum zu; wenn sich irgendwo etwas über Sprake in Erfahrung bringen ließ, dann bei den Nachmittagstrinkern im Lymph Club an der Greek Street.
    Soho Square wimmelte von Schizophrenen. Das Treibgut der öffentlichen Fürsorge, mit seinen schmutzigen Hündchen und Klamottenbeuteln, sammelte sich an solchen Orten, wo es quirlte, wimmelte und boomte. Neben dem unechten Tudorschuppen in der Mitte des Platzes hatte eine Frau mittleren Alters eine Bank annektiert und ließ mit lebhaftem aber ziellosem Interesse den Blick schweifen; ihr Akzent kam Kearney bekannt vor. Von Zeit zu Zeit klappte ihre Oberlippe zurück und ihrem Mund entfloh ein sonderbarer, planloser Laut, mehr als eine Interjektion, weniger als ein Wort. Als Kearney auftauchte, im Schnellschritt vom Ende der Oxford Street kommend, sprang von einer Sekunde zur anderen ein wissender Blick in ihre Augen, und sie verfiel in ein lautes Selbstgespräch. Sie redete unzusammenhängendes, wirres Zeug. Kearney eilte vorbei, dann machte er impulsiv kehrt.
    Er hatte Worte gehört, die er nicht verstand.
    Kefahuchi-Trakt.
    »Was heißt das?« sagte er. »Was meinen Sie damit?«
    Da sie sich beschuldigt fühlte, verstummte sie und starrte zu Boden. Sie trug eine komische Mischung aus hochwertigen Mänteln und Strickjacken, grüne Gummistiefel und selbst gestrickte fingerlose Handschuhe. Im Gegensatz zu den anderen hatte sie kein Gepäck. Ihr Gesicht, gebräunt von Abgas, Alkohol und dem Wind, der unablässig um den Sockel des Centre Point wehte (* 35-stöckiges Bürogebäude in der New Oxford Street.), wirkte seltsam gesund und rustikal. Als sie schließlich aufsah, blickte Kearney in zwei blassblaue Augen. »Ob Sie mir wohl das Geld für eine Tasse Tee geben?«, sagte sie.
    »Sie bekommen noch mehr«, versprach Kearney. »Erklären Sie mir einfach, was Sie da gesagt haben.«
    Sie blinzelte.
    »Warten Sie hier«, sagte er. Im nächsten Pret (* Pret = Pret A Manger (eine Sandwich-Kette).) kaufte er dreimal All Day Breakfast und einen großen Milchkaffee und steckte alles in eine Tüte. Die Frau auf dem Soho Square hatte sich nicht von der Stelle gerührt; sie saß da und blinzelte in die schwache Sonne und rief den Passanten gelegentlich etwas zu; ihre Aufmerksamkeit schien aber größtenteils den Tauben zu gehören, die vor ihr herumtrippelten. Kearney reichte ihr die Tüte.
    »Jetzt«, sagte er, »erzählen Sie mir, was Sie sehen.«
    Sie lächelte vergnügt. »Ich sehe nichts«, sagte sie. »Ich nehme meine Medizin. Ich nehme sie immer.« Einen Moment lang hielt sie die Pret-Tüte, dann gab sie sie zurück. »Ich möchte das nicht.«
    »Doch, doch«, sagte er und zeigte ihr Stück für Stück den Inhalt. »Sehn Sie mal! Frühstück für jede Tageszeit!«
    »Futtern Sie das«, sagte sie.
    Er setzte die Tüte auf die Bank und nahm die Frau bei den Schultern. Er wusste, sie würde prophezeien, wenn er nur die richtigen Worte fand. »Hören Sie«, versicherte er ihr so nachdrücklich wie möglich, »ich weiß, was Sie wissen. Verstehen Sie?«
    »Was wollen Sie? Sie machen mir Angst.«
    Kearney lachte.
    »Ich bin derjenige, der Angst hat«, sagte er. »Hier, trinken Sie. Essen Sie.«
    Die Frau besah sich den Becher und das Sandwich in seinen Händen, dann blickte sie über die linke Schulter, als habe sie jemanden gesehen, den sie kannte.
    »Ich will nicht. Ich will das nicht.« Sie strengte sich an, ihm den Kopf nicht wieder zuzuwenden. »Ich will jetzt aufstehen und gehen.«
    »Was sehen Sie?«, beharrte er.
    »Nichts.«
    »Was sehen Sie?«
    »Etwas fällt vom Himmel. Feuer fällt vom Himmel.«
    »Was für ein Feuer?«
    »Lassen Sie mich gehen.«
    »Was für ein Feuer ist das?«
    »Lassen Sie mich gehen. Ich will jetzt gehen.«
    Kearney ließ von ihr ab und ging. Mit achtzehn hatte er einen Traum gehabt, in dem er selbst am Ende eines solchen Lebens gestanden hatte. Krank vor Offenbarung war er durch eine Gasse getaumelt. Er war alt und voller Kummer, doch schon seit Jahren hatte sich etwas seinen Weg gebrannt, von ganz tief innen nach außen,

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