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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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wo es jetzt unkontrollierbar aus den Fingerspitzen barst, aus Augen, Mund und Penis und seine Kleidung in Brand setzte… Später hatte er begriffen, wie unwahrscheinlich das war.
    Egal, was er war, wahnsinnig war er nicht, er war auch kein Alkoholiker, ja, er war nicht einmal unglücklich. Er warf einen Blick zurück auf den Soho Square, wo seine Sandwiches von Hand zu Hand gingen und die Schizophrenen sie auseinander nahmen und den Belag untersuchten. Als habe er in einer Suppe gerührt. Wer wusste schon, was er da aufgerührt hatte? Im Grunde taten sie ihm Leid, er fand sie sogar liebenswert. Doch die Praxis sah anders aus. Sie waren so enttäuschend wie Kinder. Man sah das Licht in ihren Augen, doch das Licht war nur ein Irrlicht. Am Ende wussten sie weniger als Brian Tate, und der wusste gar nichts.
    Valentine Sprake, der behauptete, genauso viel zu wissen wie Kearney, vielleicht sogar mehr, war nicht im Lymph Club; seit einem Monat hatte ihn dort niemand mehr angetroffen. Kearney musterte die vergilbten Wände, die Nachmittagstrinker und den Fernseher über der Bar und bestellte einen Drink. Er überlegte, wo er sich als Nächstes umhören sollte. Draußen hatte sich der Nachmittag in Regen verwandelt, die Straßen waren voller Leute, die mit einem Handy redeten. Wohl wissend, dass er sich früher oder später mit einer menschenleeren Wohnung abfinden musste, seufzte er vor Ungeduld, schlug den Jackettkragen hoch und machte sich auf den Heimweg. Dort angekommen, voller Unbehagen, aber zermürbt von dem, was er für die emotionalen Ansprüche eines Brian Tate, einer Anna Kearney und dieser Frau vom Soho Square hielt, machte er alle Lichter an und schlief im Lehnstuhl ein.
     
    »Gleich kommen deine Cousinen«, verkündete Kearneys Mutter.
    Er war acht. Er war derart aufgeregt, dass er, sobald sie eintrafen, weglief, quer über die Felder hinter dem Haus und quer durch den Waldstreifen, bis er zu einem Weiher oder seichten See kam, der von Weiden umstanden war. Hier war sein Lieblingsort. Hier kam sonst niemand hin. Im Winter trat braunes Schilf aus der dünnen weißen Eisschicht am Rand; im Sommer surrten die Insekten zwischen den Weiden. Michael stand eine ganze Weile da, lauschte auf die sich verlierenden Schreie der anderen Kinder. Sobald er Gewissheit hatte, dass sie ihm nicht folgen würden, überkam ihn eine hypnotische Ruhe. Er ließ die Shorts herunter, stellte sich breitbeinig in die Sonne und sah an sich hinab. In der Schule hatte ihm jemand gezeigt, wie man ihn rieb. Er wurde groß, aber zu mehr konnte Michael ihn nicht bewegen. Schließlich fand er das Ganze zu öde und kletterte an einem geborstenen Weidenstamm hinaus. Er lag im Schatten und blickte ins Wasser, in dem es vor richtigen Fischchen wimmelte.
    Sich anderen Kindern auszusetzen, das war ihm unmöglich. Sie erregten ihn zu sehr. Sich seinen Cousinen auszusetzen, auch das war ihm unmöglich. Zwei oder drei Jahre später sollte er das Haus erfinden, das er Stechginsterland, manchmal auch Heideland nannte, wo es ihm möglich war, ungestört von ihnen zu träumen und seine lüsternen und dennoch irgendwie verklärenden Träume freimütig auszuarbeiten.
    In Stechginsterland war stets Hochsommer. Von der Landstraße aus sah man nur Bäume, schwer mit Efeu bekleidet, ein paar Meter moosbewachsene Zufahrt, das Namensschild am alten Holztor. Jeden Nachmittag hockten die blassen frisch gebackenen Teenager, zu denen seine Cousinen herangereift waren, im warmen, lichtgesprenkelten Halbdunkel – die schmutzigen Füße ein wenig auseinander, die zerschrammten Knie und die hochgerafften Röcke dicht vor der Brust – und rieben rasch und geschickt den straffen weißen Stoff zwischen ihren Beinen, derweil ihnen Michael Kearney von den Bäumen aus zusah, was ihm vorne in den grauen Schulshorts und der dicken Unterhose wehtat.
    Wenn sie Verdacht schöpften, sahen sie plötzlich auf, total verlegen!
    Was immer ihn derart in die Brachen des Lebens verschlug, hatte dafür gesorgt, das er bereits mit acht anfällig war für die kleinen Aufmerksamkeiten des Shranders. Wie der Shrander damals die Kiesel am Strand sortiert hatte, so schwamm er jetzt im Schatten der Weide mit den Fischchen um die Wette. Der Shrander informierte jede Landschaft. Die Aufmerksamkeiten hatten anfangs aus Träumen bestanden, in denen Michael auf der grünen flachen Wasseroberfläche des Kanals gewandelt war oder gespürt hatte, dass in dem Turm aus Legosteinen etwas Grässliches hauste.

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