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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Piercings der anderen Passanten. Rikschagirls, Wade und Quadrizeps auf die langsam zuckenden Muskelfasern einer Stute und das ATP-Transport-Protokoll (* ATP = Adenosintriphosphat = Molekül zur Energiespeicherung in lebenden Organismen.) eines rasenden Geparden getrimmt, spurteten hier und da zwischen den Müßiggängern, vom hiesigen Opium getröstet und aufgeputscht mit Café électrique. Und überall Schattenboys, wie immer, sie waren schneller als man gucken konnte, in Nischen huschend, in Gassen materialisierend, unentwegt ihre Einladung flüsternd:
    Wir besorgen dir alles, was du willst.
    Die Code-Salons, die Tattoo-Salons – alle von sechzigjährigen einäugigen Poeten geführt, die abgefüllt waren mit Carmody Rose Bourbon –, die an der Straße gelegenen Schneidereien und Chopshop-Läden, die winzigen Schaufenster voll gestopft mit animierten Musterstücken als da waren Briefmarken oder Orden aus imaginären Kriegen oder Tüten mit harmlos bunten Süßigkeiten – in all diesen Läden drängten sich bereits die Kunden; während aus den firmeneigenen Enklaven oberhalb der Küstenstraße Männer und Frauen in Designerklamotten gemächlich auf die Hafenrestaurants zusteuerten, erhobenen Hauptes in Erwartung der Cuisine Terrestre, Hafenlichter auf der weindunklen See, dann spätnachts noch nach Moneytown – die Reichtumserzeuger, die Wohlstandsmacher, nach eigenen Angaben ein bisschen zu gut für das alles, dennoch auf mysteriöse Weise inspiriert von allem, was billig und geschmacklos war. Stimmen erhoben sich. Gelächter stieg empor. Überall Musik, der Transformation Dub misshandelte die Ohren, die aggressiven Bässe waren noch zwanzig Meilen weit draußen auf See zu hören. Über diesen Lärm erhob sich das scharfe, aufdringliche Pheromon menschlicher Erwartung – ein Duft, der weniger von Sex, Habgier oder Aggression erzählte als von Drogenmissbrauch, billiger Falafel und teuren Parfums.
    Seria Maú kannte Gerüche, gerade so wie sie optische und akustische Eindrücke kannte.
    »Ihr tut gerade so, als sei mir das total fremd«, erklärte sie den Schattenoperatoren. »Aber dem ist nicht so. Rikschagirls und Tattooboys. Leiber! Ich war schon da, ich hab alles gesehen und ich mag es nicht.«
    »Du könntest wenigstens ein Cultivar benutzen. So hübsch sähst du aus.«
    Sie zeigten ihr ein Cultivar. Es war die siebenjährige Seria Maú. Sie hatten die bleichen Händchen mit raffinierten hennafarbenen Spiralen geschmückt und das Kind in ein bodenlanges weißes Satinkleid mit applizierten Musselinranken und cremefarbenem Spitzenbesatz gesteckt. Es starrte scheu auf seine Füße und sagte kaum hörbar: »Was man aufgegeben hat, kehrt zurück.«
    Seria Maú verjagte die Schattenoperatoren.
    »Ich will keinen Körper«, schrie sie ihnen nach. »Ich will nicht hübsch aussehen. Ich will die Gefühle nicht, die ein Körper hat.«
    Das Cultivar fiel rücklings gegen ein Schott und rutschte mit verdutzter Miene aufs Deck. »Willst du mich nicht?«, sagte das Kind. Sein Blick kippte immerzu hoch und nach unten, es rieb sich zwanghaft durchs Gesicht. »Ich weiß nicht genau, wo ich bin«, sagte es. Als ihm die Augen schließlich zufielen und jede Bewegung erstarb, schlugen die Schattenoperatoren ihre schmächtigen Pfoten vors Gesicht und zogen sich in die Nischen und Ecken zurück – das Geräusch, das sie machten, hörte sich an wie »Zzh zzh zzh«.
    »Macht mir eine Verbindung mit Onkel Sip«, sagte Seria Maú.
     
    Der Salon, von dem aus Onkel Sip, der Schneider, sein Geschäft betrieb, lag in der Henry Street unten an der Hafenmole. Er war zu seiner Zeit berühmt gewesen, seine Zuschnitte wurden damals in jedem größeren Hafen verkauft. Ein dicker, rastloser Mann mit hervorquellenden graublauen Augen, feisten weißen Wangen, Lippen, die an eine Rosenknospe erinnerten, und einem Bauch so hart wie eine Wachsbirne – der Mann behauptete, den Ursprung des Lebens entdeckt zu haben, codiert in fossilen Proteinen in einem Sonnensystem in der so genannten Radio Bay kaum zwanzig Lichtjahre vom Rand des Traktes entfernt. Ob man ihm das glaubte, hing davon ab, wie gut man ihn kannte. Als er hinausfuhr, war er nur begabt gewesen, und als er zurückkam, hatte er gewusst, was er wollte: So viel stand fest. Was immer er gefunden hatte, es hatte ihn nicht reicher gemacht als jeden anderen guten Schneider. Mehr habe er auch nicht gewollt, so oder ähnlich pflegte Onkel Sip zu sagen. Er wohnte mit seiner Familie über den

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