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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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dafür kommst du doch, oder?«
    »Du bist diejenige, die das will.«
    Sie packte seine Hand. »Aber ich seh doch dieses Ding«, sagte sie. »Ich seh es jetzt jeden Tag.«
    »Wann siehst du ihn? Hinter dir ist er doch sowieso nicht her. Das war er nie.«
    »Ich bin so erledigt heute. Ich weiß wirklich nicht, was mit mir los ist.«
    »Wenn du mehr essen würdest…«
    Sie drehte ihm abrupt den Rücken zu.
    »Ich weiß nicht, warum du herkommst«, flüsterte sie. Dann vehement: »Ich habe ihn gesehen. Ich habe ihn in diesem Zimmer da gesehen. Er steht da drinnen und starrt aus dem Fenster.«
    »Christus«, sagte er. »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«
    »Warum soll ich dir überhaupt etwas sagen?«
    Sie fiel kurz darauf in Schlaf. Kearney rückte von ihr ab und lag da, starrte an die Decke und lauschte dem Verkehr auf der Chiswick Bridge. Es dauerte lange, bis er einschlief. Als er schlief, erlebte er im Traum ein Stück seiner Kindheit.
     
    Alles war sehr deutlich. Er war drei Jahre alt, vielleicht nicht ganz, und er las Kiesel auf am Strand. Die ganzen visuellen Reize des Strandes waren geschönt, wie in einem Werbeprospekt; die Dinge schienen ein bisschen zu scharf, ein bisschen zu strahlend, ein bisschen zu klar umrissen. Die Sonne glitzerte auf der weichenden Flut. Der Sand schwang sich sanft von dannen, hatte die Farbe von Leinenrouleaus. Auf der nahen Buhne hockten die Möwen in Reih und Glied. Michael Kearney saß inmitten der Kiesel. Noch nass und durch die Widersee nach Größe geordnet, lagen sie ringsumher wie Edelsteine, Trockenfrüchte und beinerne Knollen. Er ließ sie durch die Finger gleiten, wählte, verwarf, wählte und verwarf. Er sah cremefarbene, weiße, graue; er sah tigerfarbene. Er sah rubinrote. Er wollte sie alle haben! Er sah kurz auf, um sich zu vergewissern, dass er die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Mutter fand, und als er wieder nach unten sah, war seine Sichtweise plötzlich umgeschlagen: Er sah deutlich, dass die Lücken zwischen den größeren Steinen zu ganz ähnlichen Gestalten verschmolzen wie die Lücken zwischen den kleineren Steinen. Je länger er hinsah, umso klarer wiederholte sich das Muster. Mit einem Mal begriff er, dass das eine ganz wichtige Eigenschaft der Dinge war – wenn man die Muster der Wellen sehen könnte, die Muster von einer Million weißer Wölkchen, dann würde man sie sehen, die brodelnde, unerklärliche, Schwindel erregende Ähnlichkeit in allen Prozessen der Welt, lautlos dahintosend in immer sich verschiebenden Wiederholungen, immer das Gleiche und nie zwei Dinge, die sich gleichen.
    In diesem Augenblick war es um ihn geschehen. Aus dem Sand, dem Himmel, den Kieselsteinen – aus dem, was er später für die gewollte Fraktalität der Dinge halten würde – tauchte der Shrander auf. Michael Kearney hatte damals noch keinen Namen für den Shrander gehabt. Und der Shrander hatte keine Gestalt für ihn. Doch von da an war er in Kearneys Träumen vorgekommen, als Hohlraum, als Abwesenheit, als Schatten an der Tür. Er wachte aus dem jüngsten Traum, vierzig Jahre später, auf und es war ein blasser, regnerischer Morgen mit Nebel in den Bäumen auf der anderen Straßenseite. Anna Kearney schmiegte sich an und sagte seinen Namen.
    »War ich schrecklich diese Nacht? Mir geht es jetzt viel besser.«
    Er besorgte es ihr noch einmal, dann ging er. An der Wohnungstür sagte sie: »Es heißt, es wäre eine Dummheit, allein zu leben, aber das ist nicht wahr. Dumm ist es, mit jemanden zusammenzuleben, weil man dann alle anderen aussperrt.« An der Rückseite der Tür hing eine Notiz: Jemand liebt dich. Sein Leben lang hatte Kearney Frauen favorisiert und nicht Männer. Es war eine Wahl, die er bereits früh getroffen hatte, aus dem Bauch oder aus den Genen heraus. Frauen besänftigten ihn in dem Maße, wie er sie erregte. Deshalb vermutlich waren seine Beziehungen zu Männern rasch linkisch, unproduktiv und unerquicklich geworden.
     
    Was hatten ihm die Würfel geraten? Er war sich nicht sicherer als sonst. Er nahm sich vor, Valentine Sprake zu finden. Sprake, der ihm im Laufe der Jahre immer mal wieder geholfen hatte, wohnte irgendwo in Nord-London.
    Obwohl Kearney eine Telefonnummer von ihm hatte, war er sich nicht sicher, ob sie noch stimmte. Er versuchte es jedenfalls, und zwar von Victoria Station aus. Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille, dann sagte eine weibliche Stimme: »Hier spricht der BT-Cellnet-Anrufbeantworter.«
    »Hallo?«, sagte

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