Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
aufwachte, hatte er den Geruch von Salz in der Nase. Über ihm dräuten die nächtlichen Dünen. Darüber thronte der Hals der Nacht mit seinem kitschigen Geschmeide. Beides war tröstlicher als die Silhouette der Zirkusbesitzerin oder die rote Glut ihrer Fledermausdung-Zigarette. Sandra Shen schien bester Laune.
    »Ed, du warst fabelhaft!«
    »Was hab ich denn gesagt? Was ist passiert?«
    »Sie lieben dich, Ed. Das ist passiert«, antwortete sie. »Du hast ins Schwarze getroffen. Ich würde sagen, du warst ihr Junge.« Sie lachte. »Ich würde sagen, du warst auch mein Junge.«
    Ed wollte sich aufsetzen.
    »Wo ist Annie?«
    »Annie war verhindert. Aber ich bin da, Ed.«
    Ed starrte zu ihr auf. Sie kniete hinter seinem Kopf, vorgebeugt, sodass sie ihm ins Gesicht sehen konnte. Ihr Gesicht stand für ihn auf dem Kopf, undeutlich, gelblich, vielsagend. Ein paar Funken traten aus ihren Augen und wurden vom Wind davongetragen. Sie lächelte und strich ihm über die Stirn.
    »Immer noch Langeweile, Ed? Das muss nicht sein. Der Zirkus gehört dir. Du bestimmst den Preis. Wir können anfangen, die Zukunft zu verkaufen. Ach, und Ed?«
    »Ja?«
    »In vierzehn Tagen brechen wir auf.«
     
    Er fühlte sich erleichtert. Er fühlte sich verurteilt. Wie würde Annie das aufnehmen? Den ganzen Tag hing er in den Bars des Küstenstreifens herum und trank; oder er trainierte nachmittags – was ihm gar nicht ähnlich sah – freiwillig mit dem Aquarium. Er hätte das Schiffsspiel gespielt, doch die Alten mieden das Dunes Motel. Er hätte nur zu gerne getwinkt, aber in der Stadt war es ihm zu brenzlig. Unterdessen entfernte sich Annie aus seinem Leben. Sie arbeitete die halbe Nacht und betrat, wenn sie davon ausgehen konnte, dass Ed schlief, leise das Kabuff. Wenn sie sich doch einmal begegneten, hatte sie zu tun, schwieg, hielt sich für sich. Ahnte sie etwas? Sie sah beiseite, wenn er lächelte.
    Das machte ihn so unglücklich, dass er sagte: »Wir müssen reden.«
    »Müssen wir, Ed?«
    »Solange wir uns noch kennen.«
    Eine Woche, nachdem er das große Los gezogen hatte, kam sie überhaupt nicht mehr nach Hause.
    Sie blieb drei Tage aus. In dieser Zeit traf Madame Shen ihre Vorbereitungen New Venusport zu verlassen. Die Exponate wurden zusammengeklappt. Die Attraktionen verpackt. Das große Zelt abgebrochen. An einem strahlend blauen Morgen stieg ihr Schiff, die Perfect Low, aus dem Parkorbit herunter – ein fassförmiger, messingfarbener kleiner Dynaflow-HS-SE-Frachter, vierzig oder fünfzig Jahre alt, ein kitschig fröhliches Modell mit spitzer Nase und langen, geschwungenen Heckflossen. »Na, Ed, was hältst du von der Rakete?«, wollte Sandra Shen wissen. Ed bestaunte die an eine reife Avocado erinnernde Geometrie des Rumpfes, der geschwärzt war durch all die aufrechten Landungen zwischen Motel Splendido und dem galaktischen Zentrum.
    »Ein kauziges Ding«, sagte er. »Du wolltest meine Meinung.«
    »Schon klar«, sagte sie. »Du hättest lieber einen Hypertaucher. Du wärst am liebsten wieder auf France Chance IV und würdest mit Liv Hula einen Tauchgang nach dem anderen unternehmen, in so einem Ei aus intelligentem Kohlenstoff. Ohne dich hätte sie es nicht geschafft, Ed. Später hat sie öffentlich zugegeben: ›Es war die Angst, Ed Chianese könnte mir zuvorkommen.‹«
    Ed zuckte die Achseln.
    »So war es«, sagte er. »Aber jetzt war ich am liebsten bei Annie.«
    »Oho. Jetzt, wo er fortkann, kann er sich nicht losreißen. Annie, die muss zurzeit ein Menge erledigen, Ed.«
    »Für dich?«
    Jetzt war es an Sandra Shen die Achseln zu zucken. Sie starrte noch immer zu ihrem Schiff empor, immer noch dasselbe süßsaure Lächeln um den Mund. Schließlich sagte sie: »Willst du nicht wissen, warum ihnen deine Show so gefällt? Willst du nicht wissen, warum sie ihre Meinung über dich geändert haben?«
    Ed fror. Er war sich nicht sicher, ob er es hören wollte.
    »Weil du nicht mehr vom Krieg redest, Ed, und nicht mehr über irgendwelche Aale. Du hast ihnen stattdessen eine Zukunft gegeben. Du hast ihnen den Trakt gegeben, der vor ihren Augen glitzert wie etwas durchaus Erschwingliches. Du hast sie mitgenommen, du hast ihnen gezeigt, was sie da finden können und was es aus ihnen machen kann. Hier unten ist einfach die Luft raus, und das wissen sie. Du bist ihnen nicht mit der Vergangenheit gekommen, Ed. Du hast gesagt, es wär eben nicht alles schon einmal dagewesen. ›Geht tief rein!‹, hast du gesagt. Das war es, was sie

Weitere Kostenlose Bücher