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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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gefragt.« Er versuchte sich zu erinnern, wie Chianese aussah. Vergebens. Die Twinkies sahen alle gleich aus.
    Er ging zur nächstbesten Imbissbude und holte sich noch eine Portion Fisch in Curry. Nach dem Bezahlen wollte er es wissen. »Läuft dir so ein Bursche über den Weg«, schärfte er der Bedienung ein, »wir sind die Ersten, die es erfahren.«
    Die Frau sah ihn groß an.
    »Die Allerersten«, sagte Vesicle.
    Neue Menschen, dachte sie, während sie ihm nachsah, wie er, ein Bein komisch abwinkelnd, die Pierpoint hinaufging. Was geht in euch vor?
    Angezogen von den Radio- und Fernsehspots des zwanzigsten Jahrhunderts, die als wabernde Fetzen und Spinnweben (aber voller mysteriöser, befremdlicher Vitalität) bei ihnen angekommen waren, hatten die Neuen Menschen um die Mitte des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts die Erde überschwemmt. Sie waren Zweibeiner, humanoid – wenn man ein Auge zudrückte – und allesamt groß und weißhäutig und mit einem flammend roten Haarschopf. Es gab irische Junkies, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sahen. Die Geschlechter ließen sich nur schwer auseinander halten. Sie hatten etwas Mimosenhaftes. Zum einen waren sie sehr optimistisch und tatkräftig. Alles an der Erde versetzte sie in Staunen. Sie übernahmen das Steuer und fuhren auf eine liebenswürdige, paternalistische Weise jeden Karren in den Dreck. Es handelte sich offenbar um den groß angelegten Versuch, die menschlichen Belange nach Maßgabe einer Coca-Cola-Reklame von 1982 zu begreifen. Sie stellten Nahrung her, die niemand essen konnte, sie ächteten die Politik zu Gunsten einer Bürokratie, wie sie einem in der subventionierten Kunst begegnet, und sie verlegten enorme technische Anlagen in die untere Erdkruste, was Millionen das Leben kosten sollte. Danach verfielen sie in verlegenen Müßiggang, flüchteten sich in Drogen, Popmusik und die Twinktanks, die damals eine aufregende und alles andere als zuverlässige Unterhaltungstechnik war.
    Von da an verbreiteten sie sich mit der Menschheit, wie eine Art verzerrter Kommentar zu der ganzen Expansion und dem ganzen Freihandel. Man fand sie nicht selten in den unteren Etagen des organisierten Verbrechens. Es war ihr Projekt sich einzugliedern, doch sie waren auf fatale Weise nach rückwärts gerichtet. Sie sagten immerzu: »Ich find deine Cornflakes wirklich gut, Mann. Verstehst du?«
    Vesicle ging zur Tankfarm zurück. Aus den Kopfenden der schulterhohen Sperrholzkabinen ragte ein Fußpaar heraus, als handle es sich um albern barocke, mit billigen Schnörkeln verzierte Messingsärge. BE ANYTHING YOU WANT TO BE (* SEI, WAS DU SEIN WILLST.), versprach das Reklameposter an der Rückwand jeder Kabine. Der Tank von Chianese hatte sich weiter erwärmt. Vesicle sah, warum: Der Twink hatte kein Geld mehr. Wie Vesicle den Anzeigen an der Kabine entnahm, blieb dem Burschen noch ungefähr ein halber Tag, und dann brach die Eiszeit an. Das Tankproteom, ein Schleim aus Nährstoffen und maßgeschneiderten Hormonen, war dabei, den Körper des Probanden wieder auf das richtige Leben vorzubereiten.
     
    Halb vier an einem grauen Freitagnachmittag im März. Der East River hatte die Farbe von kalter Eisenschmelze. Bereits seit Mittag staute sich der von der Honaluchi-Brücke kommende Verkehr. Chinese Ed steckte den Kopf aus dem Seitenfenster seines Rambo-Dodge und äugte in dem Geruch nach verbranntem Diesel und Blei nach Westen. Nichts. Irgendein Straßenaufbruch, die Beleuchtung war aus, jemand hatte einen Schwächeanfall; die Leute da vorne waren überlastet – zu viel Arbeit, zwei komma vier Kids zu viel, zu viel Verdauung – und hatten ihre Autos verlassen und boxten träge und sinnlos aufeinander ein. Wer weiß schon, was da passiert ist? Es war das alte Lied. Ed schüttelte über diese verblödete Menschheit den Kopf, schaltete den städtischen Verkehrsfunk ab und wandte sich stattdessen Rita Robinson zu.
    »He, Rita«, sagte er.
    Zwei, drei Minuten später hatte sich ihr pfefferminzgrün und weiß gestreifter Rock in der Taille gesammelt.
    »Sachte, Ed«, mahnte Rita an. »Der Stau dauert.«
    »Welcher?«, sagte Ed grinsend.
    Rita lachte. »Ich bin so weit.«
    Der Verkehrsstau hielt an.
    Zwei Stunden später saßen sie immer noch da.
    »Säuft der nicht bloß?«, sagte die Frau aus dem rosa Mustang, der zwei Wagen weiter vor Eddies Dodge stand.
    Ihr Blick suchte Rita, die den Rock wieder runtergestreift und den Hüfthalter zurechtgerückt hatte und sich eben mit einer

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