Licht
hat dich sowieso nicht verborgen! Dahinter hat sich dein schrecklich dürrer Leib vierzig komische Jahre lang gewunden und posiert, gelacht und Gesichter geschnitten (o ja, und geschissen, Kearney) und den riesigen beardsleyesken (* Nach Art des britischen Illustrators Aubrey Beardsley (1872-98).) Schwanz geschüttelt, hat alles getan, um bemerkt zu werden. Alles, um respektiert zu werden. Aber du willst es nicht sehen, oder? Denn hast du den Vorhang einmal weggezogen, wird dich die schiere zurückgestaute Energie zu Schlacke verbrennen.«
Der Kopf stierte erschöpft umher. Nach ein, zwei Herzschlägen sagte er weniger laut: »Kennst du das, Kearney?«
Kearney überlegte.
»Nein.«
Das Gesicht von Valentine Sprake schien von innen her fahl zu leuchten. »Nein?«, sagte er. »O ja.«
Er stand auf und kam hinter dem Sofa hervor, wo er die ganze Zeit gehockt hatte, ein dynamisch wirkender Mann von vielleicht fünfzig mit hängenden Schultern, rotblondem Haar und Spitzbart. Der farblose Blick wirkte konzentriert und abwesend zugleich. Er trug eine braune Vliesjacke, die ihm zu lang war, enge alte Levi’s, die seine dünnen Säbelbeine betonten, und Merrel Trail Boots. Er roch nach selbst gedrehten Zigaretten und no-name Whisky. In der einen Hand – die Fingerknöchel durch jahrelange Arbeit oder Krankheit vergrößert – hielt er ein Buch. Er tat bestürzt, als er auf das Buch hinunterblickte, dann hielt er es Kearney hin.
»Sieh’s dir an!«
»Nein.« Kearney wich zurück. »Nein, ich will nicht.«
»Schon wieder reingefallen«, sagte Valentine Sprake. »Es stand da drüben im Regal.« Er riss ein paar Seiten aus dem Band – der, wie Kearney jetzt sah, Elisabeths geliebte dreißig Jahre alte Pinguin-Classics-Ausgabe von Madame Bovary war – und begann sie in verschiedene Taschen seiner Jacke zu stopfen. »Ich kann mich nicht mit Leuten abgeben, die sich selbst nicht kennen.«
»Was willst du von mir?«
Sprake zuckte die Achseln. »Du hast mich angerufen«, sagte er. »Wie mir zu Ohren kam.«
»Nein«, erwiderte Kearney. »Irgendein Anrufbeantworter hat sich gemeldet, aber ich habe keine Nachricht hinterlassen.«
Sprake lachte.
»Na klar hast du. Alice hat sich an dich erinnert. Alice hat dich ziemlich gern.« Er rieb sich die Hände. »Wie wär’s denn mit ’ner Tasse Tee?«
»Ich bin mir nicht mal sicher, ob du überhaupt da bist«, sagte Kearney und blickte ängstlich zum Sofa hinüber. »Hast du irgendwas von dem verstanden, was du eben gesagt hast?« Dann sagte er: »Er hat mich wieder eingeholt. In den Midlands, vor zwei Tagen. Ich dachte, du weißt vielleicht Rat.«
Sprake zuckte wieder die Achseln.
»Du weißt, was zu tun ist«, deutete er an.
»Ich hab das so satt, Valentine.«
»Dann würdest du besser aussteigen. Ich glaube sowieso nicht, dass du ungeschoren davonkommst, egal was du tust.«
»Es funktioniert nicht mehr. Ich frage mich, ob es je funktioniert hat.«
Sprake schenkte ihm ein kleines farbloses Lächeln. »Und ob«, sagte er. »Du bist eben ein Wichser.« Er hielt eine Hand hoch, als könne Kearney Anstoß nehmen. »Nur Spaß. Nur Spaß.« Er ließ sein Lächeln für zwei, drei Atemzüge stehen, dann setzte er hinzu: »Was dagegen, wenn ich mir eine Zigarette drehe?« Auf der Innenseite des linken Handgelenks trug er ein selbst gemachtes Tattoo, das Wort FUGA, in verblasster schwarzblauer Tinte. Kearney zuckte die Achseln und ging in die Kochnische. Derweil Kearney Tee aufschüttete, ging Sprake nervös rauchend und Tabakkrümel von der Unterlippe pflückend mit großen Schritten durch die Wohnung. Er löschte das Licht und wartete mit entspannter Miene, dass sich die Wohnung mit dem Schein der Straßenlaterne füllte.
Irgendwann sagte er: »Die Gnostiker müssen sich geirrt haben.« Dann, als Kearney nichts sagte: »Über dem Fluss zieht Nebel auf.«
Es entstand eine ziemlich lange Pause. Kearney hörte zwei, drei kleine Bewegungen, als ob jemand ein Buch aus dem Regal nehme; dann ein Luftholen. »Hör dir das an…«, begann Sprake, um gleich wieder zu verstummen. Als Kearney aus der Kochnische kam, stand die Haustür offen und außer ihm war niemand mehr in der Wohnung. Zwei, drei Bücher lagen auf dem Boden, umgeben von herausgerissenen Seiten, die wie Flügel aussahen. An der leeren weißen Wand über dem Sofa, in einem hellen Parallelogramm aus Natriumlicht, dräute der Scherenschnitt eines mächtigen geschnäbelten Kopfes – irgendein Schatten, der von draußen
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