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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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Nachtseite nach oben, Motel Splendido um sein Achse. Seria Maú starrte aus dem Parkorbit nach unten. Carmody kam in Sicht, ein schummriger, verkürzter Lichtfleck von unbestimmbarer Farbe und Ausdehnung auf einer Insel am südlichen Horizont. Sie streunte via Hologramm durch die magisch illuminierten Straßen. Der Stadtkern, das waren schwarze und goldene Türme, Designerwaren in verlassenen pastellfarbenen Malls, stummes Neonlicht, das sich in den präzisen Formen matter Kunststoffoberflächen brach, die Wolken aus Spitze und austernfarbenem Satin. Aus den Bars am Meer pulste Transformation Dub, Saltwater Dub, der Soundtrack menschlichen Lebens, mit Liedern wie ›Dark Night, Bright Night‹. Menschen! Sie roch förmlich die Erregung, die es bedeutete, da unten zwischen den Sehenswürdigkeiten im warmen dunklen Herzen der Dinge zu leben. Sie roch förmlich die Schuld dieser Menschen. Wonach suchte sie? Sie wusste es nicht. Sie wusste nur eins: Onkel Sips Scheinheiligkeit ließ ihr keine Ruhe.
    Plötzlich dämmerte der Morgen herauf, und in einer Ecke des Hafendamms, wo Stufen hinunterführten zu etwas, das jetzt frisch gewaschener menschenleerer Sandstrand war, der unter dem ersten Schimmer des Tages ergraute, da stieß sie auf drei Schattenboys. Sie liefen auf Einwegcultivaren – Züchtungen mit einer Verfallszeit von vierundzwanzig Stunden: Fangzähne und übel riechende Muskeln, ärmellose Jeansjacken, Wunden von arglosen Rempeleien – hockten sie in der frühen Brise und spielten auf einer Decke das Schiffsspiel, grunzend, wenn die beinernen Würfel kullerten und purzelten, und gelegentlich High-Speed-Datenströme austauschend, was sich wie wütendes Wiehern anhörte. Komplizierte Wetten wurden abgeschlossen, weniger auf den Spielverlauf als auf die Möglichkeiten der Welt ringsum: auf den Flug eines Vogels, die Höhe einer Welle, die Farbe des Sonnenlichts. Nach jedem Würfeln wurde gefuchtelt und pantomimisch gekämpft und Papiergeld von einem zum anderen geworfen, gelacht und geschnieft.
    »He«, sagten sie, als Seria Maú in den Sand sprang. »Na komm, miez-miez-miez!«
    Sie konnten ihr nichts anhaben. Sie hatte nichts zu befürchten. Es war, als habe sie drei große Brüder. Eine Weile warfen sie die Würfel mit atemberaubender Schnelligkeit. Dann sagte einer von ihnen ohne aufzublicken: »So unwirklich zu sein, wird euch das nicht langweilig?«
    Sie konnten vor Lachen nicht weiterspielen.
    Seria Maú verfolgte das Spiel, bis die White Cat sie mit einem leisen Klingeln heimlotste.
    Kaum war sie weg, nahmen sich zwei der Schattenboys den dritten vor und schnitten ihm wegen Mogelns kurzerhand die Kehle durch; dann, überwältigt von dem schier existentiellen Moment, schaukelten sie seinen Kopf im warmen goldenen Licht der Sonne, den Kopf, der ins Nichts lächelte und sie über und über mit seinem Leben besprengte, als sei es Weihwasser. »He du«, trösteten sie ihn, »du kannst es doch noch mal versuchen. Diese Nacht versuchst du es noch mal, ja?«
     
    Wieder im Parkorbit, seufzte Seria Maú und wandte sich ab. »Siehst du«, sagte sie zu ihrem menschenleeren Schiff. »So endet das immer. Die ganze Vögelei und Rangelei führt doch zu nichts. Das ganze Geschubse und Gedränge. Alles, was sie sich gegenseitig schenken. Na ja, einen Moment lang dachte ich…« Ob sie noch weinen konnte? »Die hübschen Jungs in der Morgensonne«, sagte sie völlig gedankenlos. Da fiel ihr ein, was sie zu dem nastischen Kommandanten gesagt hatte, draußen im Schatten seines idiotisch großen Schiffes. Und dann fiel ihr die Einheit ein, die Onkel Sip ihr verkauft hatte, und was sie damit vorhatte. Und das erinnerte sie an Onkel Sips Angebot und sie stellte die Verbindung her.
    »Okay, sag mir, wo ich diesen Billy Anker finde.« Sie lachte und fügte, den Schneider imitierend, hinzu: »Und welche Ambitionen er zurzeit hat.«
    Onkel Sip lachte auch. Dann machte er ein Pokergesicht.
    »Du hast zu lange gewartet«, erklärte er. »Ich habe meine Meinung geändert.«
    Er saß auf einem Schemel im vorderen Zimmer über dem Laden. Er trug einen kurzärmligen Matrosenanzug mit Hut. Die weiße Segeltuchhose über den gespreizten Oberschenkeln war zum Zerreißen gespannt. Auf jedem Oberschenkel saß eine Tochter, plumpe kleine Mädchen mit rotem Gesichtchen, blauen Augen, glänzenden Bäckchen und blonden Ringellöckchen, erstarrt wie in einem Schnappschuss, lachend und die Händchen nach dem Hut gestreckt. Das ganze Fleisch auf

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