Licht
Funktionstüchtigkeit ihres audiovisuellen Supercargosystems gecheckt hatte, hatte sie Leerlauf. Die Mathematik der White Cat übernahm das Kommando und schläferte sie ein. Sie hatte keine Kraft zu widerstehen. Wie heißer Teer zwängten sich Träume und Nachtmahre aus ihrem Innersten empor.
Am häufigsten träumte sie von einer Kindheit. Es war vermutlich die ihre. Die Bilder in diesem Traum waren seltsam beleuchtet, blieben aber undeutlich, kamen und gingen, waren gerahmt wie altertümliche Fotos auf einem Klavier. Menschen und Ereignisse. Ein schöner Tag. Ein Schmusetier. Ein Boot. Gelächter. Nichts fügte sich zum anderen. Ein Gesicht dicht vor dem ihren, Lippen, die sich aufdringlich bewegten, fest entschlossen, ihr etwas zu erzählen, das sie nicht hören wollte. Etwas versuchte sich ihr mitzuteilen, wie eine Erzählung sich mitzuteilen versucht. Das letzte Bild sah so aus: ein Garten, beschattet von Lorbeer und dicht stehenden Silberbirken; und eine Familie, die sich um eine attraktive schwarzhaarige Frau mit runden, aufrichtigen braunen Augen scharte. Ihr Lächeln war beides: vergnügt und ironisch, das Lächeln einer lebensfrohen Studentin, die ziemlich überrascht war, sich als Mutter zu ertappen. Vor ihr standen zwei Kinder, sieben und zehn Jahre alt, ein Junge und ein Mädchen, die unübersehbar ihre Augenpartie besaßen; der Junge hatte tiefschwarzes Haar und hielt ein Kätzchen. Und hinter den dreien, die Hand auf ihrer Schulter und mit leicht unscharfem Gesicht, stand ein Mann. War er der Vater? Woher sollte Seria Maú das wissen? Es schien sehr wichtig zu sein. Sie studierte die Fotografie so eingehend, wie sie ein Gesicht studiert hätte; dabei löste sich das Bild allmählich in treibenden grauen Rauch auf, von dem ihre Augen tränten.
Der zweite Traum war wie ein Kommentar zum ersten: Seria Maú blickte auf eine leere Innenwand, die mit gerüschter austernfarbener Seide bespannt war. Nach einer Weile beugte sich der Oberkörper eines Mannes in den Bilderrahmen. Er war groß gewachsen und dünn; schwarzer Frack, gestärktes weißes Hemd, weiße Handschuhe. Eine Hand hielt den Zylinder bei der Krempe, die andere einen kurzen ebenholzfarbenen Spazierstock. Das pechschwarze Haar war mit Brillantine an den Kopf gekämmt. Durchdringende hellblaue Augen, schwarzes Oberlippenbärtchen. Ihr war, als verbeuge er sich. Nach einer ganzen Weile, als er sich so weit in ihr Blickfeld gebeugt hatte, wie es ihm möglich war, ohne es vollends zu betreten, lächelte er ihr zu. In dem Moment wurde der Hintergrund aus gerüschter Seide durch drei Bogenfenster ersetzt, die auf den gebieterischen Glanz des Kefahuchi-Traktes blickten. Das Bild, das sie sah, war aufgenommen in einem Zimmer, das durch den Raum stürzte. Langsam richtete der Mann im Frack sich wieder auf, sodass er aus dem Bild verschwand.
Falls der Traum dem Zweck gedient hatte, den vorhergehenden zu erhellen, war nichts gewonnen. Seria Maú wachte in ihrem Tank auf und durchlebte einen Augenblick völliger Leere.
»Ich bin zurück«, erklärte sie der Schiffsmathematik verstimmt. »Warum schickst du mich dahin? Was soll das Ganze?«
Keine Antwort.
Die Mathematik hatte sie aufgeweckt, trat die Kontrolle über das Schiff wieder ab und schlüpfte still und leise in ihr Reich zurück, wo sie anfing, vermittels einer Technik, die man stochastische Resonanz nennt, die Quanten zu sortieren, die aus signifikanten Navigationsereignissen in den nichtlokalen Raum sickerten. Und Seria Maú wusste mit ihrem Ärger und ihrem Gefühl von Unzulänglichkeit nichts Rechtes anzufangen. Die Mathematik konnte sie nach Gutdünken zum Schlaf verdonnern. Sie konnte sie nach Gutdünken wecken. Die Mathematik war das Zentrum des Schiffes, und das auf eine Weise, wie es Seria Maú auf immer verwehrt war. Seria Maú hatte keinen Schimmer, was die Mathematik war, was sie gewesen war, bevor die K-Technik sie auf alle Zeit miteinander vernetzt hatte. Die Mathematik war wie ein Kokon – freundlich, geduldig, liebenswürdig, nichtmenschlich, so alt wie der Halo. Die Mathematik würde immer für sie sorgen. Doch ihre Beweggründe waren unergründlich.
»Manchmal hasse ich dich«, sagte sie.
Durch Aufrichtigkeit gezwungen räumte sie ein: »Manchmal hasse ich mich selbst.«
Mit sieben hatte Seria Maú zum ersten Mal ein K-Schiff gesehen. Trotz ihres kindlichen Alters war sie von der funktionalen Formgebung so beeindruckt gewesen, dass sie aufgeregt geschrien hatte: »So eins
Weitere Kostenlose Bücher