Licht
tiefer in die Arme des Shranders getrieben.
»Woran denkst du?«, fragte Anna nach der Landung in New York.
»Wie Sonnenlicht alles verwandelt.«
Tatsächlich hatte er daran gedacht, wie Furcht alles verwandelte. Ein Glas Mineralwasser, Haare auf einem Handrücken, Gesichter in einer City. Furcht ließ ihn solche Dinge so realistisch sehen, dass es ihm manchmal unmöglich war, sie zu beschreiben. Selbst die Unvollkommenheiten des Trinkglases, seine Flecken und winzigen Kratzer existierten eher als solche und weniger als Gebrauchsspuren.
»O ja«, sagte Anna. »Woran sonst?«
Sie saßen in einem Restaurant am Rand von Fulton Market. Sechs Stunden in der Luft hatten Anna so schwierig gemacht wie ein Kind. »Du solltest immer die Wahrheit sagen«, sagte sie mit dem gleichen wilden, strahlenden Lächeln, das ihn damals so bestrickt hatte, als sie noch zwanzig gewesen waren. Sie hatten vier Stunden auf den Flug warten müssen. Den Löwenanteil der Reise hatte sie verschlafen, war aufgewacht und müde gewesen und übellaunig. Kearney fragte sich, was er in New York mit ihr anfangen sollte. Er fragte sich, warum er einverstanden gewesen war.
»Woran hast du wirklich gedacht?«
»Wie ich dich loswerden kann«, sagte Kearney.
Sie lachte und berührte seinen Arm.
»Das ist nicht besonders witzig, also wirklich.«
»Nein, nicht besonders«, sagte Kearney. »Sieh mal!«
In einem uralten Zentralheizungssystem unter der Straße war eine Dampfleitung leck. Ecke Fulton Street rauchte das Pflaster. Der Asphalt schmolz. Ein alltäglicher Anblick, doch Anna umklammerte Kearneys Arm und rief entzückt: »Wir sind mitten in einem Tom-Waits-Song.« (* Tom Waits (geb. 1949 in Kalifornien), US-amerikanischer Komponist und Schauspieler.) Je strahlender ihr Lächeln, umso näher schien sie der Katastrophe. Kearney schüttelte den Kopf. Dann nahm er den Lederbeutel heraus, in dem sich die Würfel des Shranders befanden. Er löste die Zugschnur und kippte sich die Würfel in die hohle Hand. Anna hörte auf zu lächeln und bedachte ihn mit einem freudlosen Blick. Sie streckte ihre langen Beine aus und suchte Abstand von ihm, indem sie sich weit zurücklehnte.
»Wenn du diese Dinger hier wirfst«, sagte sie, »dann bin ich weg. Dann sieh zu, wie du alleine zurechtkommst.«
Die Drohung klang ernster, als sie gemeint war.
Kearney betrachtete erst sie, dann die rauchende Straße. »Ich spüre ihn nicht in meiner Nähe«, räumte er ein. »Sei’s drum. Vielleicht brauche ich sie ja gar nicht.« Er ließ die Würfel bedächtig in den Beutel zurückfallen. »In Grove Park«, sagte er, »in deiner Wohnung, in dem Zimmer, wo ich meine Sachen verwahrt habe, über der grünen Kommode, da waren Kreidenotizen an der Wand. Warum hast du sie weggemacht?«
»Was weiß ich?«, sagte sie wegwerfend. »Vielleicht war ich es leid, sie ewig zu sehen. Vielleicht dachte ich, es wär höchste Zeit. Michael, was haben wir hier verloren?«
Kearney lachte. »Keine Ahnung«, sagte er.
Er war dreitausend Meilen gereist und nun, da die Angst nachließ, hatte er keine Ahnung, weshalb er ausgerechnet hier und nicht woanders war.
Später am selben Nachmittag in Morningside Heights bezogen sie das Apartment eines Freundes von Kearney. Sofort rief Kearney Brian Tate in London an. Als in der Forschungssuite niemand abhob, wählte er Tates Privatnummer. Auch da meldete sich nur der Anrufbeantworter. Kearney legte auf und rieb sich nervös das Gesicht.
In den ersten Tagen kaufte er sich bei Daffy’s neue Sachen zum Anziehen, Bücher bei Barnes & Nobel und in einem Outlet in der Nähe des Union Square einen günstigen Laptop. Auch Anna kaufte ein. Sie besuchten die Mary Boone’s Galerie und das mittelalterliche Cuxa-Kloster im Ableger des Metropolitan Museum of Art in Fort Tryon Park.
Anna war enttäuscht. »Irgendwie habe ich es mir älter vorgestellt«, sagte sie. »Abgenutzter.« Wenn ihnen die Sehenswürdigkeiten ausgingen, saßen sie am Westend Gate und tranken New Amsterdam Bier. Nachts in der braunen Hitze des Apartments seufzte Anna und ging launig hin und her, um sich an- und auszuziehen.
11
Maschinenträume
Billy Ankers Aufenthaltsort, wie Onkel Sip Seria Maú erklärt hatte, lag von Motel Splendido aus etliche Tage strand abwärts.Das Navigieren war ein Kinderspiel und würde erst schwierig werden, wenn es galt, den komplexen Gravitationsklippen und ätzenden Partikelstürmen der Radio Bay zu trotzen. Nachdem Seria Maú die
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