Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
sollen?«
    Kearney starrte sie ungläubig an. Er fing an zu lachen.
    Auch Anna lachte. »Ich wusste, ich würde dich hier finden«, sagte sie. »Ich hab dir ein paar Sachen mitgebracht.«
    »Anna…«
    »Du kannst nicht immer und ewig davor weglaufen.«
    Sein Lachen klang erst härter, dann verstummte es.
     
    Wie ein Traum war Kearneys Jugend verflogen. War Michael nicht auf den Feldern, dann war er in dem imaginären Haus, das er Stechginsterland nannte, Stechginsterland mit seinen Piniengehölzen, den jähen sandigen Heidelandschaften, den steilwandigen Tälern voller Blumen und Felsen. Hier herrschte ewiger Sommer. Bei Tagesanbruch beobachtete er seine Cousinen, wie sie nackt den Strand hinuntergingen, langbeinig und anmutig; er hörte sie in der Dachstube flüstern. Vor lauter Onanieren war er ständig wund. In Stechginsterland gab es immer noch mehr; und immer noch mehr. Angehaltener Atem, ein plötzlicher salziger Geruch in einem leeren Zimmer. Ein Murmeln der Verwunderung.
    »Die ganze Träumerei bringt dich nicht weiter«, sagte seine Mutter.
    Das sagten sie alle. Aber inzwischen hatte er die Zahlen entdeckt. Er hatte begriffen, dass die Struktur eines Spiralnebels denselben Zahlenfolgen gehorcht wie die Struktur eines Schneckenhauses. Zufälligkeit und Bestimmtheit, Chaos und Ordnung: die neuen Werkzeuge der Physiker und Biologen. Jahre bevor Computerprogramme wohlfeile Kunst aus dem Monster in der Mandelbrotmenge machten, hatte Kearney es gesehen: schäumend und strömend und wirbelnd im Kern der Dinge. Zahlen halfen ihm, sich zu konzentrieren: Sie machten ihn hellwach. Was ihm die Schule mit ihrer Mischung aus Langeweile und Rohheit vergällt hatte, jetzt wusste er es zu schätzen. Ohne das alles, zeigten ihm die Zahlen, würde er nicht nach Cambridge gehen, um sich mit den wirklichen Strukturen der Welt zu befassen.
    Er hatte die Zahlen entdeckt. In seinem ersten Jahr am Trinity zeigte ihm jemand das Tarotspiel.
    Sie hieß Inge. Er ging mit ihr ins Brown’s und auf ihre Bitte hin ins Kino, und zwar in den Film Black Cat White Cat von Emir Kusturica. Sie hatte lange Hände und ein aufreizendes Lachen. Sie besuchte ein anderes College. »Nun guck schon!«, befahl sie. Er lehnte sich vor. Karten flatterten über das alte Chenille-Tischtuch, schimmerten im Licht des Spätnachmittags, jede ein Fenster mit Blick auf das herrliche, schäbige Treiben der Symbole. Kearney staunte.
    »Das habe ich noch nie gesehen«, sagte er.
    »Pass auf«, befahl sie. Die Große Arkana (* Die 22 Trumpfkarten des Tarotspiels.) öffnete sich wie eine Blume und während Inge redete, verknüpften sich die Karten zu Bedeutung.
    »Aber das ist albern«, sagte er.
    Sie wandte ihm ihre dunklen Augen zu und sah ihn ohne mit der Wimper zu zucken an.
    Mathematik und Prophetie: Kearney hatte gleich gewusst, dass diese beiden Gebärden zusammenhingen, aber wie, das konnte er nicht sagen. Dann, als er am nächsten Morgen auf die Zugverbindung nach King’s Cross wartete, entdeckte er eine Beziehung zwischen dem Flattern der Karten, die in einem stillen Zimmer fielen, und dem Flattern der wechselnden Bestimmungsorte auf den mechanischen Anzeigetafeln im Bahnhof. Diese Ähnlichkeit beruhte zugegebenermaßen auf einer Metapher (denn während ein Tarotwurf – wie es aussah – vom Zufall bestimmt wurde, war die Abfolge von Bestimmungsorten – wie es aussah – vorherbestimmt): Trotzdem wollte er gleich mit einer Reihe von Reisen beginnen, die er durch Tarotwürfe bestimmen wollte. Ein paar einfache Regeln sollten die Richtung jeder Reise bestimmen, aber reisen wollte er – vielleicht zu Ehren der Metapher – nur per Zug.
    Er versuchte Inge seine Absicht zu erklären.
    »Ereignisse, die wir als zufällig ansehen, sind es oft gar nicht«, sagte er und sah zu, wie ihre Hände mischten und austeilten, mischten und austeilten. »Sie sind nur unvorhersagbar.« Ihm lag daran, dass sie den Unterschied verstand.
    »Es macht einfach nur Spaß«, sagte sie.
    Schließlich war sie mit ihm ins Bett gegangen und hatte sich gewundert, dass er ihn nicht reinstecken wollte. Daraufhin hatte sie mit ihm Schluss gemacht. Für Kearney war Inge allerdings der Anfang von allem anderen gewesen. Er hatte sich sein eigenes Tarotspiel gekauft – Crowley-Karten, deren Metaphorik aufgepumpt war mit dem ganzen Testosteron, das eine verrückte alte Seherin in petto hatte –, und jede Reise, die er danach unternahm, alles, was er tat, und alles, was er lernte, hatte ihn

Weitere Kostenlose Bücher