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Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
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auf dem dritten Absatz der Steintreppe, als er ihre Füße hinter sich hörte. »Michael«, rief sie. »Michael.« Als er nicht reagierte, folgte sie ihm hinaus auf die Straße und stand barfuß und im weißen Nachthemd da und rief. »Bist du gekommen, weil du noch mal ficken wolltest?« Ihre Stimme hallte rechts und links aus der leeren Vorortstraße zurück. »War das der Grund?«
    »Anna«, sagte er, »es ist fünf Uhr morgens.«
    »Ist mir egal. Bitte komm nicht wieder her, Michael. Tim ist sehr nett und er liebt mich.«
    Kearney lächelte.
    »Da bin ich aber froh«, sagte er.
    »Nein, bist du nicht!«, rief sie. »Nein, bist du nicht!«
    Hinter ihr kam Tim aus dem Gebäude. Er war angezogen und er hatte die Autoschlüssel in der Hand. Ohne Anna oder Kearney eines Blickes zu würdigen, überquerte er den Bürgersteig und stieg in sein Auto. Er kurbelte das Seitenfenster herunter, als wollte er einem von ihnen etwas sagen, doch dann schüttelte er nur den Kopf und fuhr los. Anna sah ihm verstört nach, dann brach sie in Tränen aus. Kearney legte ihr den Arm um die Schulter. Sie lehnte sich an.
    »Oder bist du gekommen, um mich umzubringen«, sagte sie leise. »So wie du es mit all den anderen gemacht hast?«
    Kearney ließ sie stehen und schlug die Richtung zur U-Bahn-Station in Gunnersbury ein. Das Handy zirpte, er ignorierte den Anruf.
     
    Heathrow, Terminal 3, still geworden nach der langen Nacht, bot noch einen Rest von trockener Wärme. Kearney kaufte Unterwäsche und Toiletteartikel, setzte sich in eines der Cafes vor der Abflughalle, las den Guardian und nippte an einem doppelten Espresso.
    Die Frauen hinter dem Tresen debattierten etwas aus den Nachrichten. »Ewig leben, fänd ich schrecklich«, sagte die eine. Sie hob die Stimme: »Hier ist dein Wechselgeld, Schatz.« Kearney, der erwartet hatte, auf Seite zwei seinen Namen zu lesen, hob den Kopf. Sie lächelte ihm zu. »Vergiss nicht dein Wechselgeld«, sagte sie. Er hatte lediglich den Namen der Frau gefunden, die er in den Midlands getötet hatte; niemand scherte sich um einen Lancia Integrale. Er faltete die Zeitung zusammen und musterte ein Rinnsal von Asiaten, das sich seinen Weg durch die Abflughalle suchte. Sie wollten nach LA. Sein Handy zirpte schon wieder. Er nahm es heraus: Sprachmitteilung.
    »Hi«, sagte Brian Tates Stimme. »Versuche schon die ganze Zeit, dich zu Hause zu erreichen.« Er klang gereizt. »Vor zwei Stunden hatte ich eine Idee. Ruf mich zurück.« Es entstand eine Pause und Kearney dachte schon, die Mail sei zu Ende. Dann setzte Tate noch hinzu: »Ich mach mir ein bisschen Sorgen. Nachdem du weg warst, war Gordon wieder hier. Also ruf an.« Kearney schaltete das Handy ab und starrte es an. Hinter Tates Stimme hatte die weiße Katze mit Nachdruck miaut.
    ›Justine braucht Ansprache‹, dachte er lächelnd.
    Er kramte in der Kuriertasche, bis er die Würfel des Shranders fand. Er hielt sie in der Hand. Sie fühlten sich immer warm an. Die Symbole darauf gehörten zu keiner Sprache und zu keinem Zahlensystem, das er kannte, ob vergangen oder gegenwärtig. Auf einem Paar gewöhnlicher Würfel erschien jedes Symbol zweimal; hier nicht. Kearney sah zu, wie sie über die Tischplatte kullerten und in dem verschütteten Kaffee neben der leeren Tasse zur Ruhe kamen. Er musterte sie einen Moment lang. Dann wischte er sie mit der freien Hand in den Beutel zurück, stopfte Zeitung und Handy in die Kuriertasche und ging.
    »Dein Wechselgeld, Schatz!«
    Die Frauen sahen ihm nach, dann einander an. Eine zuckte die Achseln. Inzwischen war Kearney in den Toiletten, fröstelte und übergab sich. Als er herauskam, sah er, dass Anna auf ihn wartete. Heathrow war zum Leben erwacht. Die Leute beeilten sich, ihre Flüge zu bekommen, zu telefonieren und voranzukommen, womit auch immer. Anna stand zerbrechlich und teilnahmslos mitten im Treiben und sah jedem ins Gesicht, der sie streifte. Jedes Mal, wenn sie ihn zu sehen glaubte, hellte sich ihr Gesicht auf. Kearney erinnerte sich an Cambridge. Kurz nachdem sie sich begegnet waren, hatte ihm ein Freund von ihr erklärt: »Einmal hätten wir sie fast verloren. Du passt doch auf sie auf, oder?« Er hatte mit der Warnung nichts anfangen können – mit der Vorstellung, Anna könne ihm wie ein Koffer verloren gehen –, bis er sie dann einen Monat später im Bad gefunden hatte, wo sie heulend ihre Handgelenke ausgestreckt hielt.
    Jetzt blickte sie ihn an und sagte: »Wo sonst hättest du sein

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