Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Licht

Titel: Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: M. John Harrison
Vom Netzwerk:
das Intermezzo hatte ihn natürlich neugierig gemacht. Dann sagte er zu Seria Maú: »Sie haben dem Schiff einen anderen Namen gegeben. Warum?«
    Sie lachte. »Weiß nicht«, sagte sie. »Warum macht man so was? Wir hingen da in der Finsternis, das Schiff, die Mathematik und ich. Es gab nichts, woran wir uns hätten orientieren können – abgesehen vom fernen Trakt, der wie ein Triefauge herüberblinzelte. Da fiel mir plötzlich die Legende von den alten Raumfahrern ein, die vor aberhundert Jahren zum ersten Mal die Tate-Kearney-Transformationen benutzt hatten, um von einem Stern zum anderen zu reisen. Wie sie in den langen Nachtstunden manchmal in ihren Navigationshologrammen eine geisterhafte Erscheinung von Brian Tate gesehen hatten, der mit seiner weißen Katze auf der Schulter im ewigen Salto durchs All zog. Damals hab ich mich für White Cat entschieden.«
    Billy Anker stierte sie an.
    »Jesus«, sagte er.
    Seria Maú landete auf der Armlehne seines Sessels.
    Sie stierte zurück. »Wollen Sie mir jetzt verraten, woher sie die Dr.-Haends-Einheit haben?«
     
    Bevor er antworten konnte, wurde sie von der Karaoke Sword ab-und zur White Cat zurückgezogen. Sanfter, hartnäckiger Alarm erfüllte das Schiff. In den Ecken unter der Decke rangen die Schattenoperatoren die Hände.
    »Irgendetwas geht hier vor«, sagte die Mathematik.
    Seria Maú wälzte sich unruhig in der Enge ihres Tanks. Was ihr an Gliedern geblieben war, machte fahrige, nervöse Bewegungen.
    »Wieso, schieß los.«
    Die Mathematik präsentierte das Verlaufsdiagramm eines fünf- oder sechshundert Nanosekunden alten Ereignisses: undeutliche graue Finger, die sich vor einer geisterhaften Helligkeit verknoteten und entknoteten. »Warum sieht das immer wie Sex aus?«, beschwerte sich Seria Maú. Da die Mathematik nicht wusste, was sie sagen sollte, sagte sie gar nichts. »Probier ein anderes Raster«, befahl Seria Maú gereizt. Die Mathematik wählte ein anderes Raster. Dann wieder ein anderes. Dann ein drittes. Das war als wechsle man so lange die Farbe der Brillengläser, bis man sah, was man sehen wollte. Das Bild flackerte und änderte sich wie uralte Ferienschnappschüsse in einem Diabetrachter.
    Schließlich begann es regelmäßig zwischen zwei Zuständen hin- und herzupendeln. Wenn man genau wusste, wie man in die Lücke dazwischen zu blicken hatte, konnte man – wie bei schwach reagierender Materie – den Hauch eines Ereignisses ausmachen. In einer Entfernung von zwei Astronomischen Einheiten, tief in einem Gürtel aus Gas und Asteroidentrümmern, da hatte sich etwas bewegt, um gleich wieder stillzuhalten. Die Nanosekunden verflogen und nichts weiter geschah.
    »Hast du gesehen?«, sagte die Mathematik. »Da ist etwas.«
    »Das System ist schwer einzusehen. Die Bibliothek lässt keinen Zweifel. Und Billy Anker meint…«
    »Ich weiß das zu schätzen. Aber du musst doch zugeben, dass da etwas ist.«
    »Ja, da ist was«, gab Seria Maú zu. »Aber die sind es jedenfalls nicht. Die Salve hätte einen ganzen Planeten geschmolzen.« Sie überlegte kurz.
    »Lassen wir es gut sein«, sagte sie dann.
    »Ich fürchte, das geht nicht«, wandte die Mathematik ein. »Hier geschieht etwas, und gut istes vermutlich nicht. Die sind genau wie wir in der ersten Nanosekunde nach dem Abfeuern auf und davon. Wir müssen davon ausgehen, dass sie es sind.«
    Seria Maú warf sich hin und her in ihrem Tank.
    »Wie konntest du das zulassen?«, kreischte sie. »Nach achtzig Nanosekunden waren die eine Gaswolke!«
    Noch während sie kreischte, verabreichte ihr die Mathematik ein Beruhigungsmittel. Sie hörte sich in Richtung Stille davondopplern, eine akustische Illustration aus dem Buch der Allgemeinen Relativitätstheorie. Dann träumte sie, wieder im Garten zu sein, einen Monat, bevor sich der Tod ihrer Mutter jähren sollte. Es herrschte ein feuchter Frühling mit irdischen Osterglockenbeeten unter den Lorbeerbüschen, mit irdischem Himmel, blassblau zwischen weißen Wolkentürmen. Das Haus, das nach dem langen Winter seine Türen und Fensterläden nur widerstrebend öffnete, hatte sie alle drei ausgeatmet wie den Atem eines alten Mannes. Ihr Bruder entdeckte eine Nacktschnecke. Er bückte sich und knuffte sie mit einem Stöckchen. Dann nahm er sie auf und lief mit ihr herum und rief immerzu: »Joi joi joi.« Seria Maú, neun Jahre alt, adrett in ihrem roten Wollmäntelchen, wollte ihn nicht ansehen und wollte nicht lachen. Den ganzen Winter hatte sie von einem

Weitere Kostenlose Bücher