Licht
Pferd geträumt, einem weißen Pferd mit einem so anmutigen Gang! Es würde aus dem Nichts kommen und ihr überallhin folgen und sie mit seinen weichen Nüstern stupsen.
Traurig lächelnd sah der Vater ihnen zu.
»Was wollt ihr haben?«, fragte er sie.
»Ich will die Schnecke!«, schrie der Bruder. Er plumpste hin und trat mit den Beinen. »Joi joi.«
Der Vater lachte.
»Und du, Seria Maú?«, fragte er. »Du kannst haben, was du willst!«
Den ganzen Winter über hatte er zurückgezogen gelebt, oben in seinem kalten Zimmer Schach gespielt, die Hände in fingerlosen Handschuhen. Er weinte jeden Mittag, wenn Seria Maú ihm das Essen brachte. Er wollte nicht, dass sie das Zimmer verließ. Er legte ihr die Hände auf die Schultern und zwang sie, ihm in die wunden Augen zu sehen. Sie wollte nicht, dass das ein Leben lang so weiterging. Sie mochte seine Tränen nicht; sie mochte auch seinen Garten nicht, nicht den Aschefleck und nicht den Geruch nach Verlust unter den Birken. Und trotzdem mochte sie den Vater! Sie hatte ihn lieb. Sie hatte auch ihren Bruder lieb.
Und trotzdem wollte sie ihnen weglaufen und auf dem New Pearl River davonfahren.
Sie wollte schnurstracks irgendwohin, wo nur sie zu Hause war, und in die Mähne eines großen weißen Pferdes greifen, dessen edler Atem nach Mandeln und Vanille roch.
»Ich will nicht wie die Mutter sein«, hatte Seria Maú ihm geantwortet.
Ihr Vater machte ein langes Gesicht. Er wandte sich ab. Und sie stand im Regen vor dem Schaufenster eines Retroladens.
Hinter der beschlagenen Scheibe lagen aberhundert Artikel. Lauter verlogenes Zeug. Falsche Zähne, falsche Nasen, künstliche rote Lippen, Perücken, X-Ray-Brillen, die nie funktionierten. Alte Augenwischereien aus Zinn oder Plastik, die nur eins im Schilde führten: sich, sobald man sie in die Hand nahm, als etwas anderes zu entpuppen. Ein Kaleidoskop, mit dem man sich das Auge schwarz machte. Puzzles, die sich, wenn man sie einmal auseinander genommen hatte, nie mehr zusammensetzen ließen. Dosen mit doppeltem Boden, die lachten, wenn man sie anfasste. Musikinstrumente, die furzten, wenn man hineinblies. Lauter Schwindel. Die ganze Auslage ein einziges Paradigma der Unzuverlässigkeit. Und in der Mitte residierte Onkel Sips Geschenkkarton mit dem grünen Satinband und seinem Dutzend langstieliger Rosen.
Es hörte auf zu regnen. Der Deckel des Kartons lüftete sich ein wenig. Ein nanotechnisches Substrat, das aussah wie weißer Schaum, quoll heraus und begann das Schaufenster zu fluten, derweil der freundliche Gong ertönte und die ferne Frauenstimme sagte: »Dr. Haends? Dr. Haends bitte. Dr. Haends in die Chirurgie!«
Von innen klopfte es sachte aber gebieterisch an die Scheibe. Der Schaum verzog sich und enthüllte ein Schaufenster, das nunmehr leer war – fast leer. Am Hintergrund aus austerfarbenen Satinrüschen lehnte ein steifer weißer Karton mit der flotten Skizze eines Mannes in Frack und Zylinder, der im Begriff war, sich eine türkische Zigarette mit ovalem Querschnitt anzustecken. Seine Manschetten waren mit einem Schnörkel bestickt. Auf dem Rücken seiner langen weißen Hand hatte er den Tabak festgeklopft. Festgehalten in diesem Moment, war der Mann die Eleganz in Person. Die schwarzen Augenbrauen beschrieben einen ironischen Bogen. »Wer weiß, was als Nächstes geschieht?«, schienen sie zu sagen. Vielleicht verschwand die Zigarette. Oder der ganze Zauberer. Mit dem ebenholzfarbenen Spazierstock würde er den Zylinder ein Stück weit aus der Stirn schubsen und sich langsam zu Nichts verflüchtigen, derweil der Kefahuchi-Trakt wie eine billige viktorianische Halskette über die gerüschte Satinleere schlitterte und das Licht der Straßenlaterne – ting! – einen winzigen Blitz aus einem seiner makellosen Schneidezähne schlug. Alles würde verschwinden.
Unter der Skizze stand in fetten Art-Deko-Buchstaben:
DR. HAENDS, PSYCHIC SURGEON.
Appears twice nightly.
(* DR. HAENDS, PSYCHOCHIRURG.
Allabendlich zwei Vorstellungen.)
Seria Maú wachte auf, sie war durcheinander; der Tank war mit mild stimmenden Hormonen geflutet. Die Mathematik hatte ihre Meinung geändert. »Ich glaube jetzt doch, dass wir alleine sind«, sagte sie und zog sich, noch bevor Seria Maú etwas sagen konnte, in ihre ureigenen Gefilde zurück. Seria Maú musste wohl oder übel die relevanten Displays aufrufen, um sich eingehend zu informieren.
»Jetzt bin ich mir nicht mehr so sicher«, sagte sie.
Keine
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