Licht über den Klippen
bevor er sich zum Gehen wandte. Ich wusste, dass ich ihn nicht
wiedersehen würde. Wir lebten in unterschiedlichen Welten; das Einzige, was uns
verband, war das schlichte Kästchen mit Katrinas Asche.
Ich stellte es auf den schmalen Tisch am Fenster und überlegte.
Wo sie am glücklichsten war, hatte er gesagt. Da gab es so viele
Orte. Ich rief mir Bilder ins Gedächtnis: der Sonnenaufgang am Grand Canyon
oder das Wochenende in Kerala an der Südküste Indiens, wo sich Katrina
unbeschwert wie ein Kind in die Wellen gestürzt hatte.
Sie war überall glücklich und mit Abenteuerlust durchs Leben
getanzt. Wo sie das Glück am deutlichsten empfunden hatte, war unmöglich zu beurteilen.
Ich konzentrierte mich auf das, was Bill noch gesagt hatte: Wo sie hingehört.
Das war leichter. Ich war sicher, dass meine Erinnerungen mich zu
dem richtigen Ort führen würden. Ich schloss die Augen und wartete.
Es war schon fast Abend, als er mir einfiel.
Der Ort, an den wir beide einmal hingehört hatten.
ZWEI
N ach Cornwall zu
kommen und die Brücke über den Tamar zu überqueren, vermittelte mir jedes Mal
ein ganz besonderes Gefühl, als würde ich durch einen mystischen Schleier
treten, der meine Welt von der trennte, in der ich eigentlich leben sollte.
Meine Mutter hatte immer gesagt, es sei eine Art Heimkehr, die nur Menschen mit
kornischem Blut spüren könnten. Und da meine Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits
seit Generationen aus Cornwall stammten, ist dieses Gefühl bei mir besonders
stark ausgeprägt.
Ich hatte in Cornwall das Licht der Welt erblickt, im Norden,
jenseits des Bodmin Moor, wo mein Vater, ein Regisseur, einen düsteren Thriller
gedreht hatte; meine Eltern waren beide im lieblicheren Süden Cornwalls – im
Daphne-du-Maurier-Land – aufgewachsen. Nachdem mein Vater Dozent für
Filmwissenschaften an der Universität von Bristol geworden war, hatten seine
nun geregelten Arbeitszeiten es uns ermöglicht, jeden Sommer den Tamar zu
überqueren und die Ferien bei seinem Jugendfreund George Hallett zu verbringen,
der mit seiner jungen, lebhaften Familie in einem zugigen Herrenhaus auf einem
Hügel über dem Meer lebte.
Als ich zehn war, führte der Beruf meines Vaters uns von England
fort, nach Vancouver an der Westküste Kanadas, wo er
an der University of British Columbia unterrichtete.
Mir gefiel es in Kanada. In Vancouver erhielt meine Schwester mit
achtzehn ihre ersten Angebote – anfangs noch kleine Rollen, dann allmählich
größere, die Hollywood-Regisseure auf sie aufmerksam machten.
Jahre später folgte ich ihr eher zufällig nach. Ich hatte in der
Marketing-Branche gearbeitet, mich dann für PR entschieden und war bei einem Unternehmen
gelandet, das hauptsächlich für die Unterhaltungsindustrie tätig war, sodass
ich mit fünfundzwanzig von Vancouver nach Los Angeles zog.
L. A. war nicht gerade meine Lieblingsstadt, aber als ich erst kurz
dort lebte, hatte ein Betrunkener auf regennasser Straße meine Eltern überfahren,
und von meiner Familie blieb mir nur noch Katrina, die nun mal in L. A. zu
Hause war.
Wir standen uns sehr nahe. Wo sie auch drehte, besuchte ich sie. Ich
war dabei, als Bill ihr den Heiratsantrag machte und sie in einer kleinen
privaten Feier den Bund fürs Leben schlossen. Und sie machte mich zu ihrer
Pressesprecherin – damit es in der Familie bliebe, wie sie es ausdrückte. In
den vergangenen beiden Jahren war sie aufgrund ihres Erfolgs meine wichtigste
Klientin geworden.
Zu Hause hatte ich mich in L. A. letztlich nie gefühlt, weder in
meinen insgesamt vier Apartments – noch bei den Männern, mit denen ich zusammen
war. Männer hatte es mehr gegeben als Wohnungen, doch keiner von ihnen war
geblieben. Der letzte verabschiedete sich gerade aus meinem Leben, als Katrina
krank wurde.
Die Trennung hatte ich damals kaum bemerkt, und auch nun
beschäftigte sie mich nicht. In den vergangenen sechs Monaten war ich ein
Schatten meiner selbst gewesen; erst jetzt, als der First-Great-Western-Zug
über den Tamar ratterte, spürte ich, wie sich tief in mir wieder Leben zu regen
begann.
Ich war in Cornwall, und es war tatsächlich eine Art Heimkehr. Die
draußen vorbeihuschende Landschaft mit den alten Steingebäuden, Hügeln und
Hecken hatte etwas angenehm Vertrautes. Und als ich in einen kleineren Zug
umstieg, der mich zur Küste bringen sollte, erinnerte ich mich an meine
kindliche Vorfreude auf die Sommerferien von damals.
Neben dem weißen Bahnhofshäuschen am
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