Lichtfaenger 01 - Die Auserwaehlte
bing bing riss Jil aus ihren Gedanken. Sie wandte den Kopf. Eine Straßenbahn ratterte um die Ecke. Hier in der Innenstadt gab es schon elektrische Bahnen, weiter draußen zogen Pferde die Waggons. Jil sah dem leuchtend grünen Gefährt sehnsuchtsvoll hinterher. Gerne wäre sie einmal mit der Bahn gefahren, aber sie wollte das Geld für ein Ticket nicht achtlos vergeuden. Sicherlich hätte ihr eine solche Fahrt viele Wege erleichtert, doch sie war jung und gut zu Fuß. Kaum jemand konnte so schnell laufen wie sie, nicht einmal die halbwüchsigen Jungen aus ihrer Nachbarschaft.
Nachdem Jil ihren Einkauf getätigt hatte, wäre sie gerne noch ein wenig länger in der Stadt geblieben und durch den Park geschlendert, aber sie wusste, dass der Vater zuhause ungeduldig auf seine Milch wartete, deshalb trat sie den Rückweg unverzüglich an. Der Griff der schweren Kanne schnitt ihr in die Handflächen.
Gedankenverloren schlenderte sie die lange Hauptstraße zurück nach Garnick, dem Viertel der Bauern und einfachen Bürger, als sie plötzlich jemand von hinten gegen die Schulter stieß. Jil stolperte und hatte alle Mühe, keine Milch zu verschütten.
»Pass doch auf, du Idiot!«, fuhr Jil den Rüpel an, noch bevor sie sein Gesicht gesehen hatte. Ein hagerer junger Mann stand hinter ihr, die Fäuste in die Luft gereckt, im Gesicht ein boshaftes Grinsen. Seine Haare waren kupferrot, die Ohren standen ihm vom Kopf ab. Jil hätte dieses Gesicht überall wiedererkannt.
»Was willst du, Ricky?« Sie spuckte neben sich auf den Boden und sah ihm herausfordernd in die Augen. Er überragte sie um eine ganze Kopflänge, doch Jil fürchtete sich nicht vor ihm.
»Du schuldest mir noch etwas«, sagte er.
»Tatsächlich? Was soll ich dir denn schulden? Einen Schlag auf die Nase?«
Ricky kam einen Schritt auf sie zu. Die ersten Passanten reckten die Köpfe nach den beiden, gingen jedoch ihres Weges.
»Geld. Für Zigaretten.« Ricky verschränkte die Arme vor der Brust und klopfte mit der rechten Fußspitze ungeduldig auf den Boden.
»Zigaretten?« Jils Stimme kippte. Immer, wenn sie sich aufregte, klang ihre Stimme schrill. »Die Zigaretten waren ein Geschenk. Von Geld war nie die Rede.«
»Seit wann schenke ich dir etwas? Da du mir nicht deine Brüste dafür zeigen wolltest, muss ich eben Geld verlangen.« Er grinste und offenbarte seine schiefen Hasenzähne.
»Du spinnst wohl. Damit du irgendetwas von mir zu sehen bekommst, müsste ich schon sehr betrunken sein. Und jetzt verzieh dich.«
Jil wandte sich um und wollte die Milchkanne wieder aufnehmen, als Ricky diese mit einem Tritt umstieß. Die Milch versickerte im Rinnstein.
»Jetzt reicht’s.« Jil krempelte die Ärmel hoch und holte zum Schlag aus, aber jemand hielt von hinten ihr Handgelenk fest. Ricky rannte davon. Jil drehte sich um. Ein Mann mit Hut und Frack stand hinter ihr. Sein Schnauzbart zuckte verärgert.
»Mach, dass du hier verschwindest, oder ich hole die Polizei«, brummte er. »Eine Prügelei wollen wir hier nicht haben.« Jil riss ihren Arm los, nahm wortlos die leere Milchkanne auf und setzte ihren Weg fort. Unbändige Wut stieg in ihr auf. Sie achtete nicht auf die Menschen um sie herum, und beinahe wäre sie auf einen kleinen Hund getreten. Seine Besitzerin schimpfte lauthals, aber Jil achtete nicht darauf.
Jil wusste, dass es zuhause ein Donnerwetter geben würde. Sie hatte keine Angst vor Brad, aber es tat ihr leid um ihre Schwester, die nach einem heftigen Streit immer ganz aufgewühlt war und oft stundenlang in ihrem Zimmer saß und weinte.
Als Jil das Bauernviertel Garnick erreichte, war der Vormittag bereits fortgeschritten. Es roch nach Unrat, weil einige der Bäuerinnen die Nachttöpfe im Rinnstein geleert hatten. In der Innenstadt roch es niemals schlecht, dort gab es wenigstens richtige Toiletten. Jil rümpfte die Nase und ging eiligen Schrittes weiter.
Als sie das quietschende Tor zum Hof öffnete, stand der Vater bereits im Vorgarten.
»Da bist du ja endlich. Hast du die Milch?«, stieß er hervor und riss Jil die Kanne aus der Hand. »Da ist nichts drin. Was soll das?« Er schlug mit der Kanne nach Jil, aber sie duckte sich rechtzeitig.
»Jemand hat die Milch verschüttet, es war nicht meine Schuld.«
Eine Weile lang sagte Brad nichts, als müsse er angestrengt über ihre Worte nachdenken. Mittlerweile trug er ein frisches Hemd, vermutlich hatte Dana ihm beim Ankleiden geholfen.
»Das glaube ich dir nicht. Du hast das Geld wieder
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