Lichtjahre
solche Kraft, alle, ohne Ausnahme. Eine solche Natürlichkeit. Es ist, als sähe man das Leben zum ersten Mal. Komm doch mit«, drängte Nedra.
»Ich würd gern. Aber ich kann nicht.«
»Gerald würde dich weglassen.«
»Nein, würde er nicht.«
Sie fragte Eve. Im Restaurant saßen sie in einer Nische, die langen Speisekarten in der Hand. »Findest du mich albern?«
»Jeder Schauspieler, den ich kenne, will dorthin.«
»Wirklich?«
»Hat Marina dich ihm vorgestellt?«
»Also, ihn hab ich noch gar nicht getroffen«, sagte Nedra. Eve schien erschöpft, resigniert. Arnaud war fort. Er war sowieso nie mehr derselbe gewesen. Ob es etwas Körperliches war oder nicht, wußte keiner. Sie dachte darüber nach, ihren früheren Mann wieder zu heiraten.
»Im Ernst?« fragte Nedra.
»Wir haben viel darüber gesprochen. Vielleicht sollten wir es noch mal versuchen. Letzten Endes haben wir sehr viel gemeinsam.«
Nedra antwortete nicht.
»Er macht eine Diät«, sagte Eve. »Er sieht momentan sehr gut aus.«
»Sein Gewicht war nicht das Problem.«
»Er zeigt damit nur, daß er sich ändern will. Du findest es also keine gute Idee?«
»Ich weiß nicht. Mir scheint nur... «
»Was?«
»Du hast so viel durchgemacht.«
»Du meinst, um jetzt wieder zum Anfang zurückzukehren?«
»Es ist, als würdest du aufgeben.«
»Ja, aber was soll man machen?«
»Laß uns etwas Wein trinken«, sagte Nedra.
Sie fuhr zu einem Vorstellungsgespräch nach Vermont. Sie war nervös. Es gab fünfzehn oder zwanzig Mitbewerber. Sie warteten auf Bänken neben der Scheune. Kasine empfing die Kandidaten in der Küche. Manchmal dauerte es eine halbe Stunde, bevor sich die Tür öffnete, manchmal länger.
Sie wartete den Nachmittag hindurch bis in den Abend. Niemand brachte ihnen etwas zu essen oder zu trinken. Sie saßen schweigend da. Es wurde dunkel. Es war April; es wurde kalt. Schließlich war sie an der Reihe. Sie fühlte sich erschöpft. Ihre Beine waren steif. Sie betrat das Haus durch eine Tür mit Fliegengitter.
Kasine saß mit einer dunklen Brille an einem kahlen Tisch. Er trug einen kreidebeschmierten schwarzen Anzug. Am nächsten Tag sah sie ihn im Dorf in demselben abgetragenen Anzug, in der Hand eine Aktentasche wie ein Bankangestellter oder Dozent. Am Tischende, unbeteiligt, saß Richard Brom. Während des ganzen Gesprächs sagte er kein Wort.
Sie sagte ihnen, sie habe keine Erfahrung. Sie erzählte ihnen die Wahrheit: daß sie sich irgendwie, ohne es zu wissen, vorbereitet habe. Körperlich sei sie fit, kräftig. Sie habe keine Verpflichtungen, keine Bedürfnisse, sie könne sich der Sache vollständig widmen. Sie lese gerade die Schriften des Heiligen Augustinus ..
»Wen?«
»Die Confessiones«, sagte sie.
»Ja. Erzählen Sie weiter.«
Es gebe da diese Passage, daß wir mit dem Rücken zum Licht stünden und unsere Augen die Dinge in diesem Licht sähen, aber nicht das Licht selbst. Das hätte sie so beeindruckt: Dinge, die vom Licht erleuchtet werden. Sie drehte sich zur Seite, um Brom anzusehen, der unbeweglich dasaß, als gehörte er nicht dazu, als träumte er.
»Wie alt sind Sie?« fragte Kasine. Er sah auf seine Hände, die gefaltet auf dem Tisch lagen.
»Dreiundvierzig«, sagte sie.
Es folgte ein Schweigen, wie nach der letzten Frage, der Frage, die unbeantwortet bleibt. Sie empfand einen Moment der Hilflosigkeit, des Zorns.
»Aber das hat nichts zu bedeuten«, versicherte sie ihnen.
»Wir sind eine Theatergruppe«, sagte Kasine einfach. Wenn sie eine junge Schauspielerin aufnähmen, erklärte er, würde die natürlich auch älter werden...
Ja, ja, wollte sie sagen. Sie wußte, was nun kommen würde.
»Ich denke«, sagte er, »daß Sie erst mal woanders anfangen sollten, um zu sehen, was passiert. Vielleicht wird dann klarer, ob es hier eine Möglichkeit für Sie gibt oder nicht.« Das war der Mann, der geschrieben hatte, daß genau wie die größten Heiligen zuerst die größten Sünder gewesen seien, seine Schauspieler aus dem hoffnungslosesten, dem unwürdigsten und unwahrscheinlichsten Material seien, das er finden konnte. Aber es war immer dasselbe - eine Frau, die einen Paß beantragt, eine Arbeitserlaubnis, was auch immer; egal, was sie sagte, sie war nicht mehr jung.
»Alter ist doch kein wirkliches Kriterium«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, daß Sie nicht so willkürlich entscheiden. Ich muß mehr lernen, ja, aber ich weiß auch mehr.«
»Es tut mir leid«, sagte Kasine.
Sie waren immun
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