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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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können.
    »Wer ist das?« flüsterte sie.
    »Richard Brom.«
    »Er ist unglaublich.«
    »Willst du ihn kennenlernen?«
    Sie verstand das Stück nicht, aber es enttäuschte sie nicht. Was es auch bedeuten mochte - alles bestand aus Wiederholung, Wut, Schreien -, es nahm sie gefangen, sie wollte es noch einmal sehen. Als die Lichter angingen und das Publikum klatschte, stand sie, fast ohne es zu bemerken, auf und applaudierte mit hocherhobenen Händen. In ihrer Ungehemmtheit, ihrem Eifer, war sie sichtlich eine Bekehrte. Hinter der Bühne war es wie in einem Laden, der durchgehend geöffnet ist. Das Licht kam von alten Leuchtstofflampen; eine Anzahl schlechtgekleideter Leute, die mit der Theatergruppe in keiner Verbindung zu stehen schienen, schlenderten da herum. Brom war nicht da.
    »Kommt doch mit auf die Party«, sagte jemand.
    Sie fuhren mit dem Taxi. Die dunklen Straßen holperten vorbei. »Hat es dir gefallen?« fragte Marina.
    »Es war so überwältigend. Nicht das Stück, sondern die Art der Darstellung. Sie scheinen nicht zu spielen - oder zumindest ist das das falsche Wort dafür.«
    »Ja, es ist eine Art Zeitlupen-Wahnsinn.«
    »Die Art, wie sie sich von innen nach außen zu stülpen scheinen, darin liegt eine unglaubliche Kraft. Ich war einfach überwältigt. Und ein einziger Mann bringt ihnen das bei?«
    »Er hat ein Haus in Vermont, das man ihm zur Verfügung gestellt hat«, sagte Marina. »Sie fahren allesamt dahin, sie arbeiten, diskutieren. Sie machen alles gemeinsam.«
    »Aber ist er der Lehrer?«
    »Oh ja. Er ist alles.«
    Sie fuhren in einem knarrenden Fahrstuhl. Es waren schon Leute da. Unter ihnen auch Brom. Er trug ganz gewöhnliche Kleidung.
    »Ihr Spiel«, sagte Nedra, »war das beeindruckendste, was ich je gesehen habe.«
    Seine dunklen Augen starrten sie an. Er nickte bloß, noch leblos, noch entkräftet. Sie wußte nicht, was er dachte oder fühlte. Wie alle großen Schauspieler stand er in einer Art unverhohlener Erschöpfung da, wie ein Vogel, der zu weit geflogen ist. Es gab nichts zu erwidern. Man bot ihr einen Drink an. Alle waren freundlich. Sie lachten, sie redeten mit leisen Stimmen, sie hatte noch nie Menschen getroffen, die so in Einklang miteinander waren, sie akzeptierten sie. Sie hörte Geschichten über Kasine. Er habe sagenhafte Fähigkeiten. Er sei ein außergewöhnlicher Lehrer; er wisse instinktiv, wo das Problem lag, wie ein Wunderheiler. »Ich bin zwei Monate lang jeden Tag zur selben Stunde zu ihm gegangen. Wir haben geredet, mehr nicht. Ich habe dort alles gelernt.«
    »Worüber haben Sie gesprochen?« fragte Nedra.
    »Also, so einfach ist das nicht.«
    »Natürlich nicht. Aber nur zum Beispiel... «
    »Er hat mir immer dieselbe Frage gestellt: Was hast du heute gemacht?«
    Sie waren auf eine Weise zufrieden, die sie beneidete, aber nicht ergründen konnte. Es war, als träfe man auf Mitglieder einer strenggläubigen Familie, alle verschieden, aber fest vereint.
    »Ich würd gern bei ihm lernen«, sagte sie. Sie rechtfertigte sich nicht, sie stellte keine Bedingungen.
    Einmal hatte er einer Schauspielerin in nur vier Stunden das Sprechen beigebracht. »Was meinen Sie mit Sprechen?«
    »Ihre Stimme zu benutzen. Daß die Leute zuhören.«
    Sie wollte ihn kennenlernen. Sie blickte suchend umher wie die Heilige Johanna; sie fragte sich, ob er sich hier unter den Leuten befand.
    »Sie müssen nach Vermont kommen«, sagten sie.
    Die Stunden vergingen, ohne daß sie es merkte. Als sie später am Fenster stand, sah sie, daß die Nacht vorüber war. Der Ausschnitt der Stadt unter dem Fenster war still und grau. Sie sah hoch. Der Himmel war blau, ein Blau, das, noch während sie zusah, zur Erde niedersank. Die Bäume auf der Straße entfalteten ihre Blätter. Wie im Einklang damit wurden die Lampen im Zimmer ausgeschaltet. Es war die Morgendämmerung. Draußen waren ein paar Vögel, die einzigen Laute der Natur; sonst Stille. Sie war nicht müde. Sie wäre gerne noch geblieben. Ihre Hände waren kühl und unberührt, als sie zum Abschied die Hände derer neben sich drückte. Sie schlief; sie hatte noch nie so gut geschlafen.
    Zehn oder zwölf Schüler im Jahr, mehr nahm er nicht. Sie lebten zusammen, sie arbeiteten zusammen. Sie wollte einer von ihnen sein, sich durch nichts mehr ablenken lassen, sich mit einer, nur mit einer einzigen Sache beschäftigen.
    »Glaubst du, es macht etwas aus, daß ich keine Schauspielerin bin?«
    »Du bist eine«, sagte Marina.
    »Sie haben eine

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