Lichtjahre
den erstaunten Augen aller sang er mit leidenschaftlichen Bewegungen und rauchiger imitierter Stimme das ganze »Valentine«, wobei er manchmal stolperte und mit den Schultern zuckte, wenn er den Text vergaß. Noch bevor das Essen serviert wurde, war er quer durch die Küche getorkelt und mit dem Gesicht nach unten auf einem Bett im Mädchenzimmer zusammengeklappt. »Wer ist der arme Kerl?« fragte jemand.
Am nächsten Morgen rief er in Europa an. Es war Nachmittag dort. Ihre Stimme war belegt, als hätte sie gerade geschlafen: »Hallo.«
»Hallo, Nedra.«
»Hallo, Viri«, sagte sie.
»Es ist so lange her, daß wir miteinander gesprochen haben, ich wollte dich einfach nur mal anrufen.«
»Ja.«
»Ich war gestern bei Peter und Catherine. Er ist wirklich etwas Besonderes. Natürlich haben sie nach dir gefragt.«
»Wie geht es ihnen?«
»Na ja, du weißt ja, sie führen ein merkwürdiges Leben. Das ist keine große Liebe, aber sie hängen aneinander.« Er machte eine Pause. »Ich nehm an, bei uns war das so ähnlich.«
»So wie bei allen anderen auch.«
»Wie geht's dir so?«
»Oh, nicht schlecht. Und dir?«
»Ich war oft versucht - in Wirklichkeit unzählige Male -, einfach rüberzufliegen.«
»Also, Viri, ich mein, das ist eine süße Idee, es wär schön, dich wiederzusehen, aber es würde nichts... Na ja, du weißt schon, wir haben das hinter uns.«
»Es ist schwer, mich immer wieder daran zu erinnern.«
»Das ist es wohl wirklich.«
Sie beantwortete sein Flehen mit einer Weisheit, die ihn immer wieder verblüffte. Er wollte sich an ihr festklammern, nur um zu hören, was sie sagte.
»Du weißt, daß du in ein paar Wochen vierundvierzig wirst«, sagte sie.
»Ja.«
»Es tut mir leid, daß ich an deinem Geburtstag nicht da sein kann. «
»Vierundvierzig«, sagte er. »Ich fürchte, ich seh langsam auch so aus.«
»Der einfache Teil ist vorbei.«
»Einfach soll das gewesen sein?«
»Wir steigen jetzt in den unterirdischen Fluß«, sagte sie.
»Weißt du, was ich meine?«
»Ja, ich weiß.«
»Er liegt vor uns. Alles, was ich dir sagen kann, ist, daß selbst Mut einem nicht helfen wird.«
»Liest du wieder Alma Mahler?«
»Nein.« Ihre Stimme war gelassen und wissend.
Der unterirdische Fluß. Die Decke wird niedriger, wird naß, das Wasser schießt in die Dunkelheit. Die Luft wird feucht und eisig, der Durchgang verengt sich. Das Licht verliert sich hier, die Laute; der Strom beginnt unter großen, undurchdringlichen Felsplatten zu fließen.
»Wie kommst du darauf, daß Mut einem nicht helfen wird?«
»Mut, Weisheit, nichts von alldem.«
»Nedra...«
»Ja.«
»Ist alles in Ordnung?«
»Natürlich.«
»Nein, wirklich. Nedra, du weißt, ich bin immer ... ich bin hier.«
»Viri, mir geht es gut.«
»Bist du glücklich?« fragte er.
Sie lachte. Glück. Sie wollte frei sein.
6
Es war Marina Troy, zu der Nedra sich hingezogen fühlte, als sie endlich zurückkehrte. Sie wohnte sogar eine Weile bei den Troys. Der Heilige des Theaters zu der Zeit war Philip Kasine. Seine Stücke wurden nicht angekündigt, die Nachricht wurde nur von Mund zu Mund weitergegeben, man mußte danach suchen wie nach einer Voodoo-Zeremonie oder einem Hahnenkampf. An den Mann selbst kam man nicht heran. Er hatte eine schmale Nase, knochig wie ein Finger, einen New Yorker Akzent, eine legendäre Ausstrahlung. Er ging nicht ans Telefon. Er hatte ein so starkes Selbstbewußtsein, daß es für Selbstlosigkeit gehalten wurde, die beiden waren ineinander übergegangen. Er war mehr eine Energiequelle als eine Person. Er gehorchte dem Newtonschen Gesetz von der größten aller Sonnen.
An dem Abend, als sie zu einer Vorstellung von ihm gingen, fand sie in einem alten Tanzlokal statt. Das Publikum mußte eine Stunde lang in einer Reihe auf der Treppe warten. Kasine tauchte nicht auf, obwohl jemand später sagte, er sei der Mann gewesen, der die Bühne gefegt habe, als alle ihre Plätze einnahmen. Schließlich gab es eine Ankündigung; der Vorstellung an dem Abend wurde ein Name gegeben. Schweigen. Ein Schauspieler kam heraus. Er hatte das Gesicht von j emandem, dem man nicht trauen kann, ein Mann, der alles versucht hat, dessen Hunger groß genug ist, um zu töten. Seine Bewegungen hatten die Intensität eines Wahnsinnigen, aber Nedra beeindruckten vor allem seine Augen. Sie erkannte ihre Kraft, ihre Verachtung; sie gehörten jemandem, der ihr Bruder war, das Selbst, das sie beneidete, aber in sich nie hatte erschaffen
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