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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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gegen sie. Sie konnte die Augen des Mannes, mit dem sie redete, nicht sehen, sie traute sich kaum, den anderen anzuschauen. Sie hatte ihnen alles gezeigt, ihre Aufrichtigkeit, ihre Hingabe - es war nicht genug.
    »Danke, daß Sie gekommen sind«, sagte er.
    Draußen warteten noch vier oder fünf Leute. Sie versuchte, nichts preiszugeben, als sie an ihnen vorbeiging. Sie war wie eine Frau, die eine Kathedrale verließ, die Stufen hinunterstieg, unnahbar, mit ernstem Gesicht.
    Um Mitternacht klopfte jemand an ihre Tür. Ein Mann stand da und hielt ihr etwas entgegen. Es war Brom.
    »Möchtest du ein Glas Wein?« fragte er.
    »Ja«, sagte sie. »Komm rein.«
    Das Zimmer war kalt. Es war das Zimmer eines Novizen, der Boden kahl, eine kleine Lampe brannte. Er lächelte nicht, aber er war auch nicht distanziert. Die Ausdrucksmöglichkeiten seines Mundes allein schienen unendlich, jetzt ruhten sie.
    »Seid ihr fertig?« fragte sie.
    »Noch nicht ganz.«
    Sie hatte sich das Gesicht gewaschen. Es war nackt, die Fält-chen um ihren Mund und ihre Augen waren schwach, aber unauslöschbar. Sie war eine Frau, die belesen war, die in Restaurants gespeist hatte, eine Frau, der man nichts erklären mußte.
    Er war ein Mann mit einem einzigen Talent, er hatte keine minderen Interessen, keine Makel. Er war wie ein Analphabet, ein Märtyrer; für ihn gab es keine andere Möglichkeit, weder nach rechts noch nach links. Die Strenge seines Lebens, das Spartanische, hätte in einer Grabschrift nur eine Zeile beansprucht.
    Das Land vor den Fenstern, die Bäume, die dunklen Hügel lagen im Mondlicht. Der Mond selbst war zu groß, zu weiß. Er hatte eine Brust wie ein Läufer, glatt und stark wie ein Brett. Seine Arterien traten hervor wie bei einem Pferd, das galoppiert war. Seine Finger waren kräftig. Es war, als befänden sie sich an Bord eines Schiffes: eines alten Inseldampfers, sauber und unbequem, mit dünnen Kabinentüren. Sie waren die einzigen Passagiere.
    »Ich glaube, du bist entmutigt«, sagte er. »Das darfst du nicht sein. Du wirst deinen Weg finden. Dein neues Leben.«
    »Ich fühle mich, als finge ich gerade an zu schwimmen«, sagte sie.
    »Du kannst schon sehr gut schwimmen.«
    »Ich entdecke gerade den Fluß.«
    »Ja«, sagte er. »Es geht nur darum, ob man Wasser hat.«
    Das war der erste Schritt. Ein wenig später fügte sie hinzu:
    »Nur, daß ich jetzt fliegen möchte.«
    Am Morgen gab er ihr einen kleinen silbernen Anhänger, den er um den Hals getragen hatte. Es war ein primitiver Fisch, glatt wie eine Münze. Er sagte nichts über seine Geschichte. Es war eine Art Geleitbrief; er würde sie sicher nach Hause bringen.

    Sie lebte in einer kleinen Studiowohnung, die Marina gemietet hatte. Umgeben von Lastwagen und Straßen voller Abfall. Ein Paar mit einem Kind lebte im Stock über ihr, sie hörte, wie sie sich stritten.
    Sie kaufte eine rosabraune Bettüberdecke, Räucherstäbchen, getrocknete Blumen. Neben dem Bett lagen Bücher, eine Sammlung Vergrößerungsgläser, eine Uhr. Ihre Töchter riefen jeden Tag an. Sie beklagte sich über nichts. Sie war voller Kraft.
    Unter ihrem Kleid trug sie den glänzenden Fisch und sonst nichts, wenn Brom kam. Manchmal nach seinen Auftritten aßen sie spät zu Abend. Er aß dann nur mageres Fleisch und Salat, er trank Wein, nahm danach ein wenig Obst. Im Hintergrund spielte Skrjabin, Purcell. Wenn er neben ihr schlief, war er still, regungslos. Seine Kraft verließ ihn nicht, sie lag zusammengerollt in ihm. Er war nicht muskulös, aber er war stark, wie ein Seil. Ihre Körper bewegten sich langsam, wenn sie miteinander schliefen. Er blieb still, bewegte sich fast unmerklich, schwach wie die Kiemen eines Fisches. Ihre Knie begannen zu zucken. Stöhnen kam über ihre Lippen. Fünfzehn Minuten, zwanzig, sie bebte, weinte, er hielt sie fest, ihre Arme an ihre Seite gedrückt, und begann sich in einer langsamen, bedeutungslosen Ankündigung ein wenig zur einen, dann zur anderen Seite zu wiegen. Sie zuckte wie ein geschlachtetes Tier, und dann begannen die kraftvollen Stöße, lang, ohne Ende, wie das Fällen eines Baums. Seine Hand lag über ihrem Mund, als sie aufzuschreien versuchte, er wand sich, er fiel, als wäre er aus einem Meter Entfernung erschossen worden, abrupt, unerklärlich. Ein erschöpfter Schlaf, aus dem sie nicht erwachen konnte, der Schlafeines Trinkers. Die Nachtluft ergoß sich über sie. Von der Straße drangen die Geräusche von Lastwagen herauf.
    Ein Frühstück

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