Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
Vom Netzwerk:
»Was für ein Verkehr!« sagte sie.
    »Möchtest du etwas Champagner?«
    »Ja, bitte. Ich mußte drei Straßen vorm Hafen aus dem Taxi steigen.«
    Viri machte mit ihnen einen Rundgang. Mit dem Glas in der Hand zeigte er ihnen die Salons, den Speisesaal, die leere Bühne. Die Treppen waren voller Menschen, die Gänge rochen nach Zigarettenrauch.
    »Aber all die Leute fahren doch nicht mit?« fragte Franca.
    »Entweder sie oder jemand, den sie kennen.«
    »Es ist unglaublich. «
    »Es ist ganz ausgebucht«, sagte er.
    Durch den Lautsprecher hörten sie die Aufforderung an die Besucher, von Bord zu gehen. Sie bahnten sich ihren Weg in Richtung Landungsbrücke. Er küßte seine Tochter und umarmte sie und auch Nedra.
    »Auf Wiedersehen, Viri«, sagte sie.
    Sie standen am Pier. Sie konnten ihn an der Reling auf dem Deck sehen, wo sie sich getrennt hatten, sein Gesicht war sehr weiß und klein. Er winkte; sie winkten zurück. Das Schiff war riesig, auf jedem Deck standen Passagiere, die Weite der schwarzen, fleckigen Bordwand überwältigte sie. Es war, als würde man einer Bibliothek, einem Hotel Lebe-wohl winken. Schließlich setzte es sich in Bewegung. »Auf Wiedersehen«, riefen sie ihm zu. »Auf Wiedersehen.« Das laute Heulen der Schiffssirene erfüllte die Luft. Als sie später zu Abend aßen, merkte Nedra, wie sie an Dinge dachte, die zusammen mit dem Haus verschwunden waren - oder vielmehr wurden sie ohne ihr Zutun heraufgespült wie Teile eines Wracks weit draußen auf dem Meer. Trotzdem war vieles geblieben. Sie und ihre Tochter saßen jetzt in einem Haus - es waren eigentlich nur ein paar Zimmer -, das von dem anderen, das nicht mehr da war, übriggeblieben war. Sie tranken Wein, sie erzählten sich Geschichten. Es fehlte nur ein Kaminfeuer. Viri ging zum zweiten Abendessen. Er nahm einen Drink an der Bar, wo die anderen Gäste den Barkeeper lautstark begrüßten. Im Gang waren Frauen um die Fünfzig, die sich zum Abendessen umgezogen hatten, Rouge auf den Wangen. Zwei von ihnen saßen in seiner Nähe. Während die eine redete, aß die andere dreieckige Schnittchen mit Butter, mit jeweils zwei Bissen waren sie verspeist. Er las das Menu und ein Gedicht von Verlaine auf der Rückseite. Die Suppe kam. Es war neun Uhr dreißig. Er war auf dem Weg nach Europa. Unter ihm, während er seinen Löffel aufnahm, glitten Fische, schwarz wie Eis, im Mitternachtsmeer. Der Kiel zog wie ein donnernder Kamm über sie hinweg.

    Franca war Lektorin geworden. Sie mußte jetzt über Manuskripte nachdenken, sie behutsam ins Leben rufen. Sie arbeitete in einem kleinen Kabuff, mit Türmen von neuen Büchern, Bildern, Zeitungsausschnitten, Ablenkungen jeder Art. Sie ging zu Konferenzen, Lunches. Im Frühling fuhr sie nach Griechenland. Sie war heiter, ihr Lächeln gewinnend, sie kannte den Weg ins Glück noch nicht, aber sie wußte, daß sie eines Tages dort ankommen würde.
    »Siehst du Nile noch manchmal?« fragte Nedra.
    »Der arme Nile«, sagte Franca.
    Nedra rauchte eine Zigarre, es gab ihr einen Anstrich von Autorität, von Stärke. Sie legte Musik auf, wie ein Mann es für eine Frau hätte tun können, und zog die Füße unter sich aufs Sofa.
    »Heute nachmittag auf dem Schiff hab ich gedacht, wie falsch herum alles war. Wir hätten dich verabschieden sollen«, sagte sie.
    »Ich würde fliegen.«
    »Du mußt weiterkommen als ich«, sagte Nedra. »Das weißt du.«
    »Weiter?«
    »Mit deinem Leben. Du mußt frei sein.«
    Sie erklärte es nicht; sie konnte nicht. Es ging nicht darum, ob man allein lebte, obwohl das in ihrem Fall notwendig gewesen war. Die Freiheit, die sie meinte, bedeutete Selbstüberwindung. Es war kein natürlicher Zustand. Er war nur für jene bestimmt, die alles dafür aufs Spiel setzten, die wußten, daß das Leben ohne Selbstüberwindung nur ein Fressen war, bis einem die Zähne ausfallen.

3
    Nedras Wohnung befand sich in der Nähe der Metropolitan Opera. Sie lag zu ebener Erde, ein Anbau. Sie hatte nur zwei Zimmer, aber es gab einen Garten, mehr als das, die Wand, die auf den Garten hinausging, bestand nur aus Fenstern, wie bei einem Gewächshaus. Der Garten war gestorben; er war trocken, die Ranken waren erstarrt, die Steinurnen leer. Aber den ganzen Tag lang hatte er Sonne, und drinnen, hinter der Glaswand, hatte sie viele Pflanzen, geschützt, umhegt. Sie badeten im Licht; sie verströmten Fülle und Ruhe. Die Tür zum Garten, wie die von einem Haus in Frankreich, war aus angestrichenem Eisen mit

Weitere Kostenlose Bücher