Lichtjahre
Dinge in einem bleiben«, sagte Nedra.
»Aber das tun sie nicht.«
»Ich erinner mich an meine Hochzeit«, sagte Eve.
»Das glaub ich nicht.«
»Oh doch. Meine Mutter war da.«
»Was hat sie zu dir gesagt?«
»Sie hat die ganze Zeit nur ›mein armes Baby‹ gesagt.«
»Ich war siebzehn, als ich zum ersten Mal nach New York gefahren bin.« Sie hatte Eve das nie erzählt. »Das war mit einem vierzigjährigen Mann. Er war Konzertpianist, er war durch Altoona gekommen. Als er mir schrieb und mich einlud, lag eine Rose im Umschlag. Wir wohnten in seinem Haus auf Long Island. Er lebte mit seiner Mutter zusammen, und spätnachts kam er zu mir auf mein Zimmer. Ich erinner mich nicht einmal mehr an sein Gesicht.«
Alles zog sich langsam, unmerklich von ihr zurück, wie die Ebbe, wenn man ihr den Rücken zukehrt: alle Menschen, alle Dinge, die ihr vertraut gewesen waren. Demnach wurde das ganze Leid, das Glück nicht etwa mit einem begraben, sondern verschwand vorher, bis auf ein paar verstreute Einzelheiten. Sie lebte zwischen vergessenen Episoden, unbekannten Gesichtern ohne Namen, ausgeschlossen von gerade der Welt, die sie selbst erschaffen hatte; dazu war es gekommen. Aber ich darf mir nichts anmerken lassen, dachte sie. Ihre Kinder - sie durfte es ihnen nicht zeigen. Sie formte ihr Leben von Tag zu Tag und nahm die Leere und Panik und auch die plötzlichen, fieberhaften Anfälle von Zufriedenheit als ihr Material. Ich bin jenseits von Furcht und Einsamkeit, dachte sie, ich bin darüber hinaus.
Die Idee faszinierte sie. Ich bin darüber hinaus, und ich werde nicht untergehen.
Diese Ergebenheit, dieser Triumph gaben ihr Kraft. Es war, als ob ihr Leben, nachdem es niedrige Stufen durchlaufen hatte, endlich eine Form gefunden hätte, die seiner würdig war. Das Künstliche war fort und mit ihm törichte Hoffnungen und Erwartungen. Es gab Zeiten, da war sie glücklicher, als sie es je gewesen war, und es schien, daß dieses Glück nicht von außen kam, sondern etwas war, das sie ganz aus sich selbst gewonnen, wonach sie gesucht hatte, ohne seine endgültige Gestalt zu kennen, wofür sie alles andere aufgegeben hatte - selbst unersetzliche Dinge. Ihr Leben gehörte ihr allein. Es war nicht mehr für andere da.
2
Als Viri das Haus verkaufte, war sie bestürzt. Das war etwas, was sie nie erwartet hätte, auf das sie nicht gefaßt war. Es beunruhigte sie. Es war entweder ein Zeichen von Krankheit oder großer Stärke bei Viri; sie wußte nicht, was ihr mehr angst machte. Es waren noch viele Dinge da, die ihr gehörten, sie hatte sich nie die Mühe gemacht, sie abzuholen, sie hätte es jederzeit tun können. Jetzt, als sie plötzlich merkte, daß sie bald verschwinden würden, war es ihr egal. Sie sagte ihren Töchtern, sie sollten sich nehmen, was sie wollten; um den Rest würde sie sich kümmern.
Viri wollte verreisen, erzählten sie ihr.
»Wohin?«
»Auf seinem Tisch liegen lauter Prospekte. Ein paar davon hat er angestrichen.«
Sie rief ihn an. »Das mit dem Haus tut mir so leid.«
»Es fiel schon auseinander«, sagte er. »Na ja, nicht wirklich, aber ich konnte mich nicht darum kümmern. Man müßte seine ganze Zeit nur darauf verwenden, weißt du?«
»Ich weiß.«
»Ich hab hundertzehntausend dafür gekriegt.«
»So viel?«
»Die Hälfte gehört dir. Abzüglich Hypothek und dergleichen.«
»Ich finde, du hast einen guten Preis bekommen. So viel ist es nicht wert. Sie haben bestimmt nicht in den Keller geguckt.«
»Der Keller ist es nicht. Es ist das Dach.«
»Ja, das Dach. Aber andererseits ist es viel mehr wert als hunderzehntausend. «
»Nicht wirklich.«
»Viri, ich bin sehr froh über das Geld. Es ist nur ... na ja, wir können es nicht noch mal verkaufen.«
Er fuhr an Bord der France an einem lauten traurigen Nachmittag. Nedra kam zum Abschied ans Schiff, wie eine Schwester, eine alte Freundin. Es hatte sich eine große Menschenmenge angesammelt, eine Menge, die schließlich am Ende des Piers stehen und dicht gedrängt winken würde, eine Menge wie in den Zwanziger Jahren, wie nach Revolutionen in Mexiko oder wenn Krieg drohte.
Sie saßen bei einer Flasche Champagner in der Kabine.
»Möchtest du das Bad sehen?« sagte er. »Es ist sehr schön.«
»Wie lange wirst du bleiben, Viri?« fragte sie, als sie die Armaturen begutachteten, die Details, die für hohen Seegang entworfen worden waren.
»Ich weiß nicht genau.«
»Ein Jahr?«
»Oh, ja. Mindestens ein Jahr.«
Endlich kam Franca.
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