Lichtjahre
Wo tut es weh? Er tastet sie wie ein Blinder ab, am ganzen Körper, und dann hält er inne und sagt: Es sitzt hier.«
»Unglaublich.«
»Dann beginnt er zu schneiden, mit einem gewöhnlichen Messer.«
»Sterilisiert er es?«
»Ein Küchenmesser. Ich hab es gesehen.« Sie hypnotisierten sich gegenseitig mit Gesprächen und Bewunderung. Die Stunden vergingen langsam, Stunden, wenn die Stadt im Nachmittag versank, Stunden, die nur ihnen allein gehörten. In Nedra hatte sich ein Sinn für den Osten entwickelt, vielleicht durch Jivan, und jetzt, in der Gegenwart dieses schlanken Mädchens, die sagte, sie hätte neun Sinne, die darüber klagte, sie habe keinen Busen, fühlte sie sich erneut davon angezogen. Nichi hatte kleine Zähne, schreckliche Zähne, sie schwor, sie habe ihrem Zahnarzt gerade erst zweihundert Dollar gezahlt und sogar das sei ein Sonderpreis gewesen.
»Ich hab ihm gesagt, wenn ich betäubt bin, kann er mit mir machen, was er will.«
»Und?«
»Ich bin mir nicht sicher.«
Sie hatte eine vollkommene Figur. Sie war wie eine Puppe. Ihre Finger waren schlank, ihre Zehen knochig wie die Füße eines Spatzen. In ihrer Wohnung ließ sie Räucherstäbchen brennen; der Geruch hing schwach in ihren Kleidern. Sie hatte einen Universitätsabschluß in Psychologie, aber außerhalb ihres Studiums hatte sie nichts gelesen. Nedra erwähnte Uspenski. Nein, sie habe noch nie etwas von ihm gehört. Sie hatte weder Proust gelesen noch Pavese oder Lawrence Durrell.
»Was haben die geschrieben?« sagte sie.
»Und Tolstoi?«
»Tolstoi. Ich glaub, von Tolstoi hab ich mal was gelesen.« Sie trafen sich im Garten des Museum of Modern Art, die Stadt lag stumm hinter.seinen Mauern. Sie aßen zu Mittag, sie redeten. Unter dem glänzenden schwarzen Haar in der brennenden Sonne, hinter den intensiven Augen sah Nedra einen Moment lang etwas, das sie tief berührte - etwas Seltenes, die Vorstellung, noch einen Freund zu finden, wenn das Herz schon begonnen hat, sich zu schließen.
Sie war wie ein Obstbaum, dachte sie bei sich, der keine Früchte mehr trägt, aber noch stark ist, wie damals die Bäume in dem Obstgarten am Hang vor Marcel-Maas' Scheune. Sein Name hatte kürzlich in der Zeitung gestanden. Er hatte eine wichtige Ausstellung gehabt, es gab Artikel über ihn. Er wurde endlich anerkannt, alles, was er sich erträumt und gewünscht hatte, die Dinge, die er nicht sagen konnte, die Freunde, die er nie gehabt hatte, der Beifall - all das wurde jetzt Leinwänden zu Füßen gelegt, die er gemalt hatte. Er war endlich in Sicherheit. Er existierte, er konnte nicht verschwinden. Sogar seiner Ex-Frau gab das Halt. Sie war Teil davon, sie war vor dem letzten Akt abgetreten, aber sie würde den Rest ihres Lebens darüber reden können - bei Dinnerpartys, in Restaurants, in den großen leeren Räumen der Scheune, falls sie dort noch lebte.
Die jungen Frauen kamen sie besuchen. Telefonanrufe, Gespräche mit Freunden, hin und wieder ein Brief von Viri. Ihr wurde bewußt, daß das Leben sich aus diesen Kieseln zusammensetzte. Man muß sich ihnen überlassen, erklärte sie Nichi. »... auf ihnen gehen«, sagte sie, »sich die Füße wund laufen. «
»Was meinst du mit Kieseln? Ich glaub, ich weiß schon.« »... sich erschöpft auf sie legen. Kennst du das, wenn deine Wange ganz warm wird durch die Sonne, die sie gespeichert haben?«
»Ja.«
»Komm, ich les dir aus der Hand«, sagte Nedra.
Die Hand war schmal, die Linien überraschend tief. Sie schien nackt, diese Handfläche, wie die einer älteren Frau. Sie fuhr die Hauptlinien nach. Sie spürte diese flachen Augen voll Faszination und Gläubigkeit zu ihrem eigenen Gesicht aufblicken, mit seiner Magerkeit, seiner Intelligenz, seiner Unbeweglichkeit, aber sie tat, als merkte sie es nicht. »Deine Hand ist halb Gefühl, halb Intellekt«, sagte sie, »zwischen beiden gespalten. Du kannst dich ganz kühl betrachten, selbst in Zeiten, wenn du von deinen Gefühlen beherrscht wirst, aber gleichzeitig bist du romantisch, du würdest dich gerne vollständig hingeben, ohne nachzudenken. Dein Intellekt ist stark.«
»Ich mache mir eher Sorgen um meine Gefühle.«
»Daß du nicht genug davon hast?«
»Ja.«
»Du hast genug davon. Mehr als genug. Oh ja.«
Sie sahen beide in die kleine bloße Handfläche.
»Aber das weißt du schon«, murmelte Nedra. Sie erschuf eine Wahrheit, erfand sie. Hinter ihr die glänzenden Pflanzen, das Sonnenlicht, die Luft von Lichtbahnen durchzogen, in
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