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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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einem Glasfenster in der oberen Hälfte. Es gab einen offenen Kamin in ihrem Schlafzimmer und ein enges, verfallendes Badezimmer. Am Morgen saß sie barfuß allein an einem kleinen Tisch und ließ ihrer Vorstellung freien Lauf. Die Stille, das Sonnenlicht umschlossen sie. Sie begann - nicht ernsthaft, sagte sie sich selbst, sie war zu stolz, einen frühen Mißerfolg zu riskieren - , ein paar Kindergeschichten zu schreiben. Viri hatte eine solche Begabung dafür gehabt. Oft dachte sie an ihn, wie eine Witwe an ihren berühmten Mann denken würde. Sie sah ihn wieder, wie er morgens Tee trank, mit ungelenker Hand eine Zigarette rauchte; sein ein wenig schlechter Atem, sein schütteres Haar. Er war so abhängig, so kindlich. In Zeiten der Not oder des Umbruchs wäre er schnell zugrunde gegangen, aber er hatte Glück gehabt, er hatte immer in behüteten Zeiten gelebt, die Jahre waren ruhig gewesen. Sie sah ihn mit seinen kleinen Händen, seinem blaugestreiften Hemd, seiner Ineffizienz, seinen Launen. Wenn es aber um Geschichten ging, war er wie ein Mann, der sich in Fahrplänen auskannte, er war präzise, selbstsicher. Er begann mit wundervollen, fast witzigen Sätzen. Seine Geschichten waren leichtfüßig, aber nicht oberflächlich; sie hatten eine merkwürdige Klarheit, sie waren wie eine Stelle im Meer, an der man den Grund sehen konnte. Sie sah sich im Spiegel. Das Licht war weich. Ein Leberfleck an ihrem Kinn war dunkler geworden. Die Falten in ihrem Gesicht waren nicht mehr bloß angedeutet. Es stand außer Frage, sie sah älter aus, sie hatte das Alter einer Frau, die bewundert, aber nicht geliebt wird. Ihre Pilgerfahrt hatte sie durch Eitelkeit geführt, durch die Seiten von Illustrierten, sogar durch Neid in eine weitere, ruhigere Welt. Wie eine Reisende konnte sie vieles erzählen, und es gab vieles, was sie nie erzählen würde.
    Junge Frauen redeten gerne mit ihr, waren gern mit ihr zusammen. Sie fanden es leicht, sich ihr anzuvertrauen. Sie war so gelassen und entspannt. Eine von ihnen arbeitete mit Franca zusammen, sie hieß Mati. Ihr Mann hatte sie verlassen, und sie wirkte, als hätte sie sich schon ertränkt. Eines Nachmittags zeigte Nedra ihr, wie man sich die Augen schminkt. Innerhalb einer Stunde, so wie Kasine eine Schauspielerin verändert haben sollte, verwandelte sie ein einfaches, niedergeschlagenes Gesicht in eine Nofretete, die zu lächeln imstande war.
    Sie sah das Leben von jungen Frauen wie dieser in großer Klarheit. Sie erkannte Dinge, die sie nicht sahen oder die ihnen verborgen waren. Eines Tages kam eine junge Japanerin zu ihr, schmalgliedrig, geheimnisvoll, ein Mädchen, das in St. Louis geboren, aber ganz und gar fremdartig war, aus einer völlig anderen Welt. Es war, als beobachtete man ein exotisches Tier, das auf eigene Weise ißt, sich auf eigene Art bewegt. Sie hieß Nichi. Sie kam oft zu ihr, manchmal blieb sie zwei oder drei Tage. Sie sprach das s weich, mit orientalischer Zurückhaltung. Sie war anmutig wie eine Katze, sie konnte auf Tellern laufen, ohne ein Geräusch zu machen. Sie hatte fünf Jahre lang mit einem Psychologen zusammengelebt.
    »Aber das ist vorbei«, sagte sie. »Er ist Psychiater, er hat keine Praxis, er arbeitet in der Forschung. Ein sehr intelligenter Mann, brillant.«
    »Aber ihr habt nicht geheiratet.«
    »Nein. Mir wurde mit der Zeit klar, daß... die Antwort nicht die Psychiatrie sein kann. Weißt du, sie sind merkwürdig, sie haben sehr merkwürdige Ideen. Ich will dir das gar nicht erzählen. Er wird mal berühmt werden«, sagte sie. »Er schreibt an einem Buch. Er hat lange daran gearbeitet. Es geht um unorthodoxe Heilungsmethoden. Natürlich hat es etwas mit dem Geist zu tun, der Kraft des Denkens. Weißt du, es gibt Menschen, die können so was wie Wunder bewirken. Das, was wir darunter verstehen. Es gab einen berühmten Mann in Brasilien; wir sind zu ihm gefahren. Er arbeitete als Büroan-gestellter in einem Krankenhaus, aber nach der Arbeit empfing er Patienten, sie kamen von überall her, Hunderte von Meilen weit. Er hat sie sogar operiert, ohne Betäubung. Sie haben nicht einmal geblutet. Das ist wahr. Wir haben einen Film darüber gemacht.«
    »Ich hab nie von ihm gehört.«
    »Oh, die Regierung läßt nichts nach außen dringen«, sagte sie. Sie war intensiv, sicher. »Die Ärzte versuchen ihn totzu-schweigen.«
    »Aber wie arbeitet er? Was sagt er zu seinen Patienten?« »Na ja, ich kann kein Portugiesisch, aber er fragt sie: Was fehlt dir?

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