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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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antwortete nicht gleich. Er spürte, was sie wollte. »Nein«, murmelte er.
    »Keats ist dort begraben.«
    »Wirklich? Hier in Rom?«
    »Dann haben Sie sein Grab noch nicht gesehen? Es ist sehr bewegend. Es liegt abseits, in einer Ecke für sich. Es steht kein Name darauf, wissen Sie.«
    »Kein Name?«
    »Eine wunderschöne Inschrift, aber kein Name.«
    Sie war offensichtlich kurz davor zu sagen: »Ich zeig es Ihnen, wenn Sie möchten«, aber sie hielt sich zurück. Sie sagte es bei seinem zweiten Besuch.

    An einem milden Wintertag gingen sie auf das Grab zu. Der Boden war trocken unter den Füßen. In der Ferne, neben einem Baum, konnte er die zwei Steine sehen. Danach aßen sie gemeinsam zu Mittag.
    Wie Montaigne, dessen Biographie er las, hatte er auf einer Reise eine italienische Frau getroffen und sich verliebt. Es fehlten nur noch die Bäder von Lucca. Montaigne war achtundvierzig gewesen. Eine totgeglaubte Quelle war wieder aufgebrochen.

5
    Lia kam aus dem Norden. Ihr Vater war in Genua mit seiner steilen Nekropolis geboren; ihre Mutter, romantischer, in Nizza. Sie erzählte ihm das alles. Er liebte die Einzelheiten ihres Lebens, sie elektrisierten ihn. Er war in das Alter gekommen, in dem sich in seinem eigenen Leben alles zu wiederholen schien, zum zweiten oder dritten Mal geschah, wie eine Darbietung auf der Bühne, deren Möglichkeiten er alle kannte. Sie ließ ihn das vergessen. »Nizza. Gehörte das nicht mal zu Italien?« »Alles gehörte einmal zu Italien«, sagte sie. Die Namen, die sie ihm nannte, die Geschichte, ihre Kindheitserlebnisse - das alles war neu, das alles funkelte wie die Energie im Schwarz ihres Haars. Sie war von einer resignierten Intelligenz, sie war anspruchs-oll, sie war schüchtern. Das große Unglück ihres Lebens war, daß sie nie geheiratet hatte.
    Von dem Moment an, als er sie selbstbewußt und zierlich hinter ihrem Schreibtisch sitzen, sie tippen oder telefonieren sah, wurde ihm bewußt, wie fähig sie war. Aber sie hatte ie etwas gewagt, sie wartete bloß, all die Jahre hatte sie auf einen Mann gewartet. Sie war eine Art brillanter Krüppel; sie konnte sich alles vorstellen, aber sie konnte nicht gehen. Und ihm ging es nicht viel besser. Obwohl er sich von Anfang an stark zu ihr hingezogen fühlte, war er unsicher; so lange hatte er schon nicht mehr gejagt, und auch damals war er nicht besonders gut darin gewesen.
    Sie gingen abends in einem Restaurant essen, das nach jener Bäckerstochter benannt war, La Fornarina, die eine Geliebte Raffaels gewesen war. Es war Winter, der Garten war geschlossen. Sie hatte mit ihm reden wollen, sobald sie ihn gesehen hatte, sagte sie. Sie hatte sich ein Bild von ihm gemacht, dadurch, wie man über ihn sprach, und durch seine Briefe, aber nichts von dem, was sie erwartet hatte, konnte das Gefühl von Nähe und Vertrautheit erklären, das sie spürte, als er zum ersten Mal ins Empfangszimmer trat.
    »Du bist einer unter Tausenden«, sagte sie ihm. »Ja, du bist wirklich besonders.«
    Eine Wärme durchströmte ihn, ein Schwindelgefühl, als hätte er einen Kampf bestanden. Mit einem Wort, einem Blick umarmte sie ihn; sie hatte den trüben Himmel aufgerissen, das Licht strömte herab. Es ist immer ein Zufall, der uns rettet. Es ist jemand, den wir nie zuvor gesehen haben. Sie kannte Rom, wie ein lebenslänglicher Gefangener es kennt. Sie kannte seine Geschäfte, seine sonnigen Plätze, seine Straßen mit schöner Aussicht. Sie zeigte ihm einiges. Sein Hunger erwachte, seine Sehnsüchte, seine Fähigkeit, sich zu freuen.
    Sie füllte sein Glas mit Wein, nahm selbst nur wenig, trank es aber nicht. Sie sagte ihm mit großer Gelassenheit, daß sie nicht die Kraft hätte, ihm zu widerstehen.
    »Ich glaube, du weißt das«, sagte sie. Ihre Hände schoben ich unter seine. Die Berührung ihrer Finger nahm ihm den Atem.
    Sie habe ein kleines Auto, viele Paar Schuhe, sagte sie wehmütig, etwas Geld in der Schweiz; sie sei wie ein fertig angerichtetes Mahl.
    »Und du bist gekommen, um es zu essen«, sagte sie. »Ja, es ist ein wunderbares Mahl, es ist ein Essen, wie man es nur einmal im Leben bekommt.«
    Zuppa, carne, verdura, formaggi. Die Prozession von abge nutzten weißen Tellern auf dem Tischtuch, das grobe, einfache Brot, die Kellner in ihren leicht verschmutzten Jacken. Der Wein hatte auf ihn keine Wirkung, dazu war er zu erregt. Als sie sich zu ihm herüber lehn te, um ihm mit der Karte zu helfen, spürte er die Wärme ihres Gesichts. Sie aß

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