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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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reicher als sein eigenes war, reicher als seines je sein könnte. Er fürchtete die Erkenntnis, daß er mit Lia bereits in das Schweigen pflichtgemäßer Mahlzeiten geraten war, während ihrer beider Aufmerksamkeit zu anderen Tischen abschweifte, zu Leuten, die von den Kellnern an ihre Tische geleitet wurden, während sie darauf warteten, daß man die Gerichte vor sie hinstellte.
    »Du bist so still«, sagte sie.
    »Bin ich das?«
    Er wußte nicht, was er ihr sonst antworten sollte. Vor sich sah er - als wäre es schon geschehen - die Frau, die er geheiratet hatte, mit der ihm beschieden war, die restlichen Jahre seines Lebens gemeinsam am Tisch zu sitzen. Er beneidete jeden einzelnen Mann um sich herum, der eine andere geheiratet hatte und sich entspannt unterhielt. Was war auf längere Sicht schließlich wichtiger als das? Es ist das tägliche Brot der Sexualität.
    Aber er wußte zugleich, daß es eine Art von Panik war, die ihn stumm machte, daß er nicht er selbst, daß er unsicher war. In dieser Frau steckten tiefe, fast unbesiegbare Sehnsüchte und Triebe. Sie würden sich nicht alle an einem Tag zeigen, sie hatten zu lange in ihr geschlafen. Sie war wie eine Verurteilte, eine Ausgestoßene, an die man glauben mußte, wenn sie nicht ganz verloren sein sollte. Sie brauchte jemanden, der sie rettete. Und diesen Mann würde sie erstaunen, den Mann, der ihr sein Leben widmete. Gedanken über den unterirdischen Fluß gingen ihm durch den Kopf, die Reise, die nur wenige Männer auf sich nahmen, bei der man alles riskierte.
    »Weißt du, was ich gern machen würde, Lia. .. «
    »Nein, was?«
    »Ich würde gerne eine kleine Reise machen. Ich würde gerne mit dir irgendwohin fahren, weg von Rom, nur wir beide. Würde dir das gefallen?«
    »Sì, amore.«
    »Eine Woche oder so.«
    »Sì. Kannst du noch ein wenig warten? Meine Eltern wollen verreisen. Das wäre ein günstiger Zeitpunkt.«
    »Wohin fahren sie?«
    »Nach Sizilien.«
    »Wir fahren nach Norden.«
    »Keine Angst, sie werden uns nicht finden.«
    Er konnte seine Gedanken nicht lange genug kontrollieren, um zu verstehen, was in ihm vorging. Er war so durcheinander. Wurde er auf eine Probe gestellt? War ihm überhaupt noch etwas anderes möglich, als dieses Hin und Her zwischen dem Anschein von Glück und Langeweile und Furcht? Oder vielleicht war er wie jemand, der seinen eigenen Schwächen gegenüber blind war, dabei, wiederum eine hoffnungslose Häuslichkeit zu inszenieren und gerade jene Dinge zu wiederholen, die ihn ja hierhergebracht hatten, in dies fremde Land, weit weg von zu Hause. Manchmal schlief er in der Wohnung, unruhig, allein. Sie kam am Morgen zu ihm. Sie hatte Orangen in der Tasche, Blumen, Fotos aus ihrer Kindheit, von ihrem Vater, der sie zu sehr liebte, Fotos von Mykonos, aus London, als sie fünfundfünfzig Kilo wog - furchtbar, sie drehte sie schnell um, sie waren ihr peinlich, aber sie wollte ihm alles zeigen -, die hausbackene englische Freundin, in deren Landhaus sie ein eisiges Weihnachten verbracht hatte. Sie wollte, daß er ihr Leben teilte. Sie kniete in ihrem weißen Slip auf dem Bett und schälte eine Orange. Sie war ernst, sie sagte nichts. Die Fensterläden waren geöffnet, das Sonnenlicht strömte herein. Sie zeigte ihm ihre Stadt, das Schlüsselloch auf der Piazza dei Cavalieri di Malta, durch das man einen versteckten Garten sehen konnte und dahinter, in der Luft schwebend, groß wie die Sonne, die Kuppel des Petersdoms. Sie zeigte ihm Museen und die Ruinen von Ostia, San Giovanni an der Porta Latina mit dem vom Blitz getroffenen Baum, St. Agnese, wo die Barbiere von Rom die Bettler rasierten, kleine Restaurants, Gräber. In den ausgeblichenen roten Putz einer Mauer, wo, als sie noch ein Kind war, ein Verrückter in einer Höhle unter dem Gehweg gelebt hatte - sie hörten ihm immer zu und rannten weg, wenn er aufheulte -, hatte jemand etwas eingeritzt. Viri stand davor und las es. JUNGER MANN, GUTAUSSEHEND, TÜCHTIG, ZIEL: EHE. SUCHT ERNST-HAFTE UND CARINA FRAU. Darunter eine Telefonnummer und gewisse unanständige Bemerkungen.
    »Ja«, sagte Lia trocken. »Ehe.«
    »Aber meint er es denn nicht ernst?«
    »Wer weiß?« Es war ein milder Tag. Der Winter war fast vorbei.

6
    Im April fuhren sie in den Argentario. Die Straßen waren leer. Sie waren Stunden unterwegs, und in der Wärme der Sonne, die durch die Windschutzscheibe fiel, im weichen Federn des Wagens, war er ruhig und entspannt. Das Land, durch das sie fuhren, war nicht

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