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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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parkten drei Straßen weiter. Als er sich dem Kino näherte, fühlte er sich wie ein Schuljunge, der seine Hausaufgaben nicht gemacht hat und die Klasse betritt. Er mischte sich nervös unter die Leute. Sie saßen im Zuschauerraum, und sie flüsterte ihm im Dunkeln die wichtigsten Sätze zu.
    Das Radio spielte leise. Die Abende waren kalt; ihnen war kühl. Selbst in diesen südlichen Breitengraden verblaßte das Licht. Sie hatte den Kessel aufgesetzt und stellte die Tassen auf den Tisch - schwache, vertraute Geräusche, die ihn wie Stimmen aus der Ferne trafen. Ein erster Anflug von Panik über ihre Freundlichkeit überkam ihn. Freundlichkeit war nicht, was er brauchte. Sein Leben wurde fortgespült, es fiel in Stücke, trieb wie Papier auf dem Wasser; er brauchte Stunden, die ausgefüllt waren, Arbeit, Verantwortung. Er lächelte ermattet, als sie mit den Tassen zu seinem Stuhl kam und sich neben ihn kniete. Schweigen. In der Art einer Dienerin begann sie, ihm Schuhe und Strümpfe auszuziehen. Seine Füße waren bloß. Sie zog sie zu sich.
    »Ihr seid kalt«, sagte sie. Sie hielt sie in den Händen. »Ich werde euch wärmen.« Sie redete mit ihnen, als wären sie Kinder. »Ja, so ist's besser, nicht? Sì. Ja, ihr seid nicht an den Winter gewöhnt, nicht an die Winter hier. Die sind etwas Neues. Sie können kalt sein, kälter als ihr euch vorstellen könnt. In euren hübschen englischen Schuhen denkt jeder, daß ihr warm und zufrieden seid. Schaut nur, was für schöne Schuhe, sagen sie, so schöne Schuhe. Ja, sie denken, euch ist warm, weil ihr so hübsch ausseht; sie denken, ihr seid glücklieh. Aber Glück findet man nicht so leicht, nicht wahr? Es ist sehr schwer, es zu finden. Es ist wie Geld. Es kommt nur einmal. Wenn du Glück hast, kommt es einmal, und das schlimmste ist, daß man nichts tun kann. Man kann hoffen, man kann suchen, Wut, Gebete. Nichts. Es ist angsterregend, ohne Glück zu sein, auf das Glück zu warten, geduldig, bereit, das Gesicht zu heben und zu strahlen wie ein Mädchen bei der Kommunion. Ja, sagst du dir, hier, hier, ich bin bereit.«
    Ihre Wangen waren an seine Füße gedrückt. Sie schien sehr klein.
    »Und nichts geschieht«, sagte sie. »Es kommt zu allen anderen. Ja, denkst du, es wird auch zu mir kommen. Und jedes Jahr hast du mehr zu geben, nichts davon wird verbraucht, nichts wird genommen, man ist reich, schwer beladen. Und jedes Jahr das gleiche: nichts. Bis es schließlich kaum mehr jemand andern gibt, du stehst allein wie eine einsame Blume auf einer großen Wiese, und es ist Herbst, ja, die Tage werden kürzer, die Gräser biegen sich unter dem Wind. Und die Sonne kommt, und sie scheint immer noch auf dich herab, allein auf diesem großen Feld, die letzte Blume, sie ist schön, ja, gerade deswegen, und man sitzt da an den langen endlosen Nachmittagen und wartet und wartet... « Sie war eine Frau von großer Kraft. Sie war zart, aber sie besaß Willensstärke, und sie war von erschreckender Einsamkeit. Die Stadt hallte wieder von dieser Einsamkeit. Die großen Stahlgitter wurden abends geschlossen, die Straßen leerten sich, die Leute verschwanden. In dem einen oder anderen Restaurant und leeren Café gab es noch Licht, der Rest war Dunkelheit, Leere. Die Monumente schliefen, die Katzen kauerten unter parkenden Autos. Es war eine Stadt, die auf Familie und Gesetz ruhte, selbst wenn man sich lustig darüber machte, selbst wenn man es verachtete; alles andere verflüchtigte sich, war vergeblich.
    »Du wirst das Glück finden«, sagte er zu ihr. Sie aßen zu Mittag. Auch der Winter hatte sonnige Tage, Mittagsstunden unendlicher Ruhe. Er brach ein Stück Brot, um seine Verwirrung zu verbergen, bestürzt darüber, welche Zeitform er für sein Verb gewählt hatte.
    »Glaubst du?« sagte sie kühl. Ihr entging nichts.
    »Ja.«
    »Sehr ermutigend.« Sie betrachtete sein Gesicht. Sie war vorsichtig, gewarnt.
    Er bedauerte, was er gesagt hatte, es war, als hätte er versucht, sich aus ihrem Leben zurückzuziehen. Sein Schuldgefühl und die gesunden Gesichter der Leute an den Tischen um sie herum ließen Unruhe und Scham in ihm aufsteigen. Die langen dunklen Haare der italienischen Frauen, ihre leidenschaftlichen Gesichter - um so rührendere Gesichter, weil sie weich waren und ihre Schönheit keine zehn Jahre halten würde -, Paare, die sich unterhielten, Familien, ihr starkes Interesse aneinander, ihr Lachen, all das schien das eheliche Leben zu feiern, das mit seinen vielen Facetten

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