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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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ihm geblieben waren. Holzfeuer, hatte er aufgeschrieben, Die London Times, Essen mit Freunden. ..
    Zeit hatte nichts Schönes mehr für Viri. Sie stank in seinen Taschen. Er hatte vage Pläne, Verabredungen, aber nichts zu tun. Seine Augen wollten auf keinem Gegenstand haften bleiben, sie glitten ab wie ein sterbendes Insekt. Er taumelte, schwankte zwischen Phasen, in denen er überhaupt keine Kraft mehr hatte, keinen Grund, keinen Willen zu kämpfen, in denen er sich danach sehnte, mit den leichten Füßen, die die Liebe verlieh, dem Tod entgegenzulaufen, wie ein fanatischer Gläubiger, in Trance, benommen. Und dann wieder, in der Stille am frühen Nachmittag, wenn er die Zeitung öffnete, war er völlig anders.
    Er stand im Badezimmer zwischen dem weißen Stuhl, der Fensterbank aus grauem Marmor, den riesigen Fenstern aus Milchglas, die das Licht noch zu intensivieren schienen. Die Rundung am Innenrand des Bidets, seine Glätte, riefen in ihm plötzlich ein Gefühl tiefsten Verlangens hervor. Die Rundung entsprach dem Teil des Körpers, für den sie bestimmt war, und er wurde schwach wie bei dem Anblick eines Kleidungsstücks oder der Unterwäsche einer geliebten Frau, frisch und hauchzart, die irgendwo hingeworfen war. Er hatte kein klares Bild von sich selbst, das war das Problem. Er wußte, er war begabt und intelligent. Er würde nicht verenden wie ein Meerestier, das an Land gespült wurde. Die ganze Vergangenheit, sagte er sich, alles, was so schwierig gewesen war, womit er gekämpft hatte wie ein Reisender mit zuviel Gepäck - Idealismus, Treue, deine Tugenden, dein Anstand -, sie alle wirst du brauchen, wenn du alt bist, sie werden dich bewahren, dich am Leben erhalten; das heißt, sie werden für jemanden von Bedeutung sein. Und dann, einen Tag später, überfiel ihn wieder die Krankheit; es war etwas, was er nicht erkannte noch verstand. Plötzlich war er nervös, ängstlich, deprimiert. Wie ein Blitz durchfuhr ihn die Erkenntnis, was ein Zusammenbruch war: der Moment, wenn das Leben außer Kontrolle gerät. Seine Brust schmerzte, seine Beine waren kalt, er mußte ständig schlucken, seine Gedanken rasten unsinnig. Er sah hinaus auf die Hinterhöfe des Winternachmittags, Höfe mit verglasten Baikonen und Treppenabsätzen. Sein einziger Kontakt mit der Außenwelt, abgesehen von dem schwachen Verkehrslärm, den Stimmen im Flur, die nie verstummten, war das schwarze Telefon, ein beängstigender Apparat, schrill wie ein Alptraum, aus dem abrupte Stimmen ertönten, deren Gemütsverfassung er nicht erraten konnte. Er hatte nicht die Kraft, nicht den Wunsch auszugehen. Der Gedanke an Menschen war ihm entsetzlich. Er wollte nicht Italienisch sprechen; es war nicht seine Sprache, nicht seine Art zu empfinden. Er wollte seine Kinder wiedersehen, nur noch einmal, vor seinem Ende.
    Am nächsten Tag, im Sonnenschein, sah alles anders aus. Der Himmel war mild, Leute lächelten und waren freundlich. Es war, als könnten sie sehen, daß er ein Invalide war, der Überlebende eines Schiffsunglücks. Er ging zum Büro zweier Architekten, mit denen er brieflich im Kontakt gestanden hatte. Sie waren jung und ernst. Einen von ihnen hatte er in New York getroffen. Das Empfangszimmer war ruhig und luxuriös, der Luxus, der durch untrüglichen Geschmack entsteht. Es sprach von Ordnung und Überblick, er fühlte sich sofort zu Hause. Das Fieber war vorüber.
    Die Sekretärin sah auf. »Buon giorno.«
    »Ich bin Mr. Berland.«
    »Guten Morgen, Mr. Berland.« Sie sah zu ihm auf, ein kleines, intelligentes Gesicht, kurze Haare, schwarz wie der Flügel eines Vogels. »Wir haben Sie schon erwartet«, sagte sie. »Mr. Cagli hat noch jemanden in seinem Büro; es wird nur ein paar Minuten dauern.«
    »Das macht nichts.«
    Sie sahen einander an. Es schien, als nickte sie leicht, in orientalischer Manier. »Sind Sie schon lange in Rom?« fragte sie.
    »Seit ein paar Wochen.«
    »Gefällt es Ihnen?«
    »Es ist mir fremd; ich glaube, ich habe mich noch nicht ganz darangewöhnt.«
    »Sprechen Sie Italienisch?«
    »Na ja, ich hab angefangen.«
    »Bene«, sagte sie einfach.
    »Ich bin eine Schande für Ihre Sprache.«
    »Nein, das glaub ich nicht. Trova quale più facile , parlare o capirei«
    »Capire.«
    »Sì«, stimmte sie zu.
    Sie lächelte. Ihr Mund war klein wie der eines Kindes. Ihr Name war Lia Cavalieri. Sie war dreiunddreißig. Sie lebte in der Nähe des protestantischen Friedhofs. War er schon einmal dort gewesen? fragte sie. Er

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