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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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beantworten könnt... « Plötzlich drehte er sich um und lief ein paar Schritt weit in Richtung der näher kommenden Autos, er rief und fuchtelte mit den Armen. Es war kein Taxi darunter. Sie waren schwarze, versiegelte Behälter, die einen Schlenker machten, um ihm auszuweichen. Er wurde von etwas getroffen, ein stechender Schmerz in der Kälte. Er stürzte auf ein Knie, als hätte man ihn gestoßen.
    Er versuchte aufzustehen. Das, womit sie ihn schlugen, hörte sich an wie ein nasses Tuch. Es war der Anfang einer Sache und das Ende einer anderen. Er schleppte sich weiter wie ein Flagellant, herausgerissen aus dem Frieden eines unverletzten Lebens. Er hielt die Arme über den Kopf, er rief: »Oh mein Gott!«
    Er stolperte, versuchte sich gegen den Hagel dumpfer Schläge zu wehren, die auf ihn niederprasselten. Er versuchte zu laufen. Seine Augen waren blind, er konnte nichts sehen, er schien sich bis zuletzt treu bleiben zu wollen, komisch bis zum Schluß, rufend, bis sein Auftritt in der eisigen Kälte zu Ende war und seine Beine nachgaben. Auf den Knien bot er ihnen sein Geld an. Sie verstreuten den Inhalt seiner Brieftasche, als sie gingen. Seine Uhr nahmen sie nicht einmal. Sie war kaputt. Wie die Instrumente eines abgestürzten Flugzeugs zeigte sie den genauen Zeitpunkt der Katastrophe an. Er lag mehr als eine Stunde da, die Autos kurvten an ihm vorbei, ohne ihre Fahrt zu verlangsamen.

    Eve rief am Morgen an. »Oh Gott«, wimmerte sie.
    »Was ist passiert?«
    »Weißt du's noch nicht?«
    »Was soll ich wissen?« sagte Nedra. Draußen vor dem Fenster lief ihr Hund im Sonnenlicht über den gefrorenen Boden.
    »Arnaud . ..« Sie begann zu weinen. »Sie haben ihn zusammengeschlagen. Er hat ein Auge verloren.«
    »Zusammengeschlagen?«
    »Ja. Irgendwo downtown«, schluchzte sie.

3
    Das Leben teilt sich und hinterläßt Narben, ähnlich den Ringen in einem Baum. Wie dicht beieinander die ersten liegen, die Zeit drückt sie zusammen, zwanzig Jahre lassen sich nicht mehr voneinander unterscheiden. Eine neue Epoche hatte für sie begonnen. Alles, was zu der alten gehörte, mußte vergraben, mußte abgelegt werden. Das Bild von Arnaud mit seinem dick verbundenen Auge, die schweren Prellungen, das langsame Sprechen wie von einem leiernden Plattenspieler - diese Wunden erschienen ihr wie Zeichen. Sie markierten ihre ersten Lebensängste, die Furcht vor der Bösartigkeit, die Teil des Lebens war, für die es keine Erklärung gab, kein Heilmittel. Sie wollte das Haus verkaufen. Etwas ging um sie herum vor, es erstreckte sich auf alle Bereiche ihres Lebens, sie begann es in den Straßen zu sehen, es war wie die Dunkelheit, sie war sich plötzlich ihrer bewußt, wenn sie kommt, dann kommt sie über alles.
    An Jivan bemerkte sie zum ersten Mal Dinge, die geringfügig waren, aber deutlich erkennbar, wie die schwachen Fältchen auf seinem Gesicht, die, wie sie wußte, eines Tages zu Furchen werden würden; sie waren die Spuren seines Charakters, sein Schicksal. Die in gewisser Weise servile Ehrerbietung, die er zum Beispiel Viri entgegenbrachte, war, wie sie sah, nicht die Folge einer einzigartigen Situation, sondern seine Natur; er hatte etwas Unterwürfiges an sich, er hatte zuviel Respekt vor erfolgreichen Männern. Seine Selbstsicherheit war rein körperlich, darüber ging sie nicht hinaus, wie ein junger Mann, der in seinem Zimmer mit Hanteln trainiert; er war stark, aber seine Stärke war kindisch. Die Dinge hatten sich irgendwie verändert zwischen ihnen. Sie würde ihn immer gern haben, aber der Sommer war vorbei.
    »Was ist los?« wollte er wissen.
    Ihr war nicht nach Erklärungen zumute. »Liebe ist Bewegung«, antwortete sie. »Sie verändert sich.«
    »Ja, natürlich ist Liebe Bewegung, aber zwischen zwei Menschen. Nedra, irgend etwas stört dich doch, dafür kenne ich dich zu gut.«
    »Ich denke einfach, daß wir andere Luft brauchen.«
    »Andere Luft. Du meinst nicht Luft.«
    »Du weißt, was ich meine.«
    »Ja, vielleicht. Du siehst wunderbar aus, das weißt du. Du siehst besser aus als damals, als ich dich kennengelernt habe. Was passiert, ist ganz natürlich, aber ich sag dir etwas, was dir nicht klar ist. Wenn du geliebt wirst, denkst du, Liebe sei leicht zu finden, daß jeder sie besitzt. Das stimmt aber nicht. Liebe ist sehr schwer zu finden.«
    »Ich such ja gar nicht danach.«
    »Sie ist wie ein Baum«, sagte er. »Sie braucht eine lange Zeit, um zu wachsen. Sie hat sehr tiefe Wurzeln, und diese Wurzeln

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