Lichtjahre
gefragt: ›Wo gehst du denn hin?‹ «
»Du mußtest doch gar nicht so früh nach Hause.«
»Mußte ich wohl.«
Nedra war erschreckt. »Was ist passiert, hat dir die Party nicht gefallen?« sagte sie.
»Doch, die Party schon. Ich hab mir nicht gefallen.«
»Was hatten denn die anderen an?«
»Du bestehst immer darauf, daß ich anders bin«, platzte es aus ihr heraus. »Ich hab immer andere Sachen an, hier kann ich nicht hin, da kann ich nicht hin. Ich will das alles nicht mehr. Ich will wie alle anderen sein!« Die Tränen strömten ihr über das Gesicht. »Ich will nicht so sein wie du.«
Mit einem Schlag hatte sie ihre eigene Welt errichtet. Nedra sagte nichts. Sie war wie betäubt. Sie wußte plötzlich, daß etwas in Gang gesetzt worden war, von dem sie gedacht hatte, daß es niemals passieren würde. Sie ging beunruhigt zu Bett, hin-und hergerissen von dem Verlangen, in das Zimmer ihrer Tochter zu gehen, und gleichzeitig voller Angst vor dem, was sie sagen könnte.
Am nächsten Tag war alles vergessen. Franca arbeitete im Ge-wächshaus. Sie malte. In ihrem Zimmer lief Musik. Hadji lag auf ihrem Bett, sie war glücklich. Es war vorüber.
Sie erhielt einen Brief von Robert Chaptelle, mit dem es bergab gegangen war. Es fiel ihr schwer, sich an ihn zu erinnern, an seine Nervosität, seinen teuren Geschmack und seine plötzlichen Einfälle, die ihren so ähnlich waren. Über das Theater schrieb er nichts; es ging ausschließlich um irgendeinen Mann, der Europa retten konnte.. .. er ist ungefähr ein Meter achtzig groß. Er hat eine Ausstrahlung wie Kennedy. Es wühlt dich auf, wenn er spricht. Seine Stimme ist unvergeßlich. Mir war vergönnt, ihn zu treffen, Stunden in seiner Gegenwart sind wie Minuten. Seine Augen! Endlich verstehe ich das Wesen der Politik. Cela tient du prodige.
Sie las ihn nur flüchtig. Er würde bald wieder von sich hören lassen, schrieb er in diesem letzten Brief. Er war aus gesundheitlichen Gründen auf Reisen, hatte die Versicherungsagentur, bei der er eine Zeitlang gearbeitet hatte, verlassen und war in die entlegenen Kleinstädte Frankreichs verschwunden. Fort, ins Schweigen getaucht. Sie dachte mehr als einmal an die Frau, die Kandinsky zurückgelassen hatte. Es gibt Geschichten, die durch ihre Kürze gewinnen. Sie hatte den Namen in ihren Kalender geschrieben, oben, wo man die Seiten umblättert: Gabriele Münter.
2
Er verdiente Geld, seine Klienten mochten ihn, er konnte wunderschön zeichnen. Ruskin sagte, ein wirklicher Architekt müsse zuerst ein Bildhauer und Maler sein. Das war er fast und zudem so zerstreut, so in die Arbeit vertieft, daß er einmal aus Versehen Vogelfutter statt Zucker in seinen Tee schüttete. Er war unterhaltsam, geistreich; seine Handschrift war wie gestochen.
Sie gingen mit Michael Warner und seinem Freund essen. Die beiden liebten Nedra, sie verehrten sie.
»Sie haben eine so schöne Tochter.«
»Ich mag sie«, gab Nedra zu. »Sie ist eine richtige Freundin für mich.«
»Sie hat so etwas Unzerstörbares. Was will sie mal machen?« fragte Michael.
»Ich möchte gerne, daß sie reist«, sagte Nedra.
»Aber sie wird doch studieren, oder?«
»Ja, natürlich. Obwohl ich manchmal denke, daß die einzig wahre Erziehung nur von einem Menschen ausgeht. Wie geboren werden - man bekommt alles aus einer vollkommenen Quelle.«
»Aber die hat sie doch an Ihnen, oder nicht?« sagte Michael.
»Nedra, ich halte das wirklich für eine sehr gefährliche Idee«, widersprach Viri.
»Ein Mensch, dessen Leben so außergewöhnlich ist, daß es alles um sich herum befruchtet«, fuhr Nedra fort.
»Theoretisch mag das ja möglich sein«, sagte Viri, »aber eine einzige Beziehung, alles darauf zu stützen, kann sehr gefährlich sein. Ich meine, es ist doch möglich, von den Ideen einer sehr starken Persönlichkeit geprägt zu werden, aber auch wenn diese Ideen für sich interessant sein mögen, könnten sie für jemanden wie Franca ganz falsch sein.«
»Marina hat Darin Henze drei Jahre auf seiner Tournee um die Welt begleitet. Es war eine phantastische Erfahrung.«
»Darin Henze?«
»Der Tänzer.«
»Was meinst du mit ›begleitet‹?«
»Sie war natürlich seine Geliebte. Sie hat sich für seine Arbeit interessiert. Aber es ist wirklich egal, was er nun gemacht hat, er hätte auch Anthropologe sein können. Fachwissen ist kein Wissen. Was ich mit Wissen meine«, sagte Nedra, »ist gelernt zu haben, wie, auf was für einer Ebene, man sein Leben lebt.
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