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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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reichen sehr sehr weit, weiter, als du denkst. Du kannst sie nicht einfach so fällen. Und außerdem ist das nicht deine Natur. Du bist kein Kind, es geht dir nicht nur um Sinnlichkeit. Ich habe keine andere Frau, ich bin nicht verheiratet, ich habe keine Kinder.«
    »Du könntest heiraten.«
    »Du weißt, daß ich das nicht kann.«
    »Die Dinge werden sich verändern.«
    »Nedra, du weißt, daß ich Franca liebe. Daß ich Danny liebe.«
    »Ich weiß.«
    »Es ist nicht fair, was du da sagst.«
    »Ich bin es müde, die Dinge von allen Seiten zu betrachten«, sagte sie einfach.
    Sie wollte sich nicht streiten. Sie hatte sich entschieden.
    Für sie gab es nichts mehr außer ihren Kindern, so sehr, daß Jivans Erklärung, er liebe sie, sie beunruhigte. Sie fühlte sich dadurch fast bedroht.
    Ihre Liebe für ihre Kinder war die Liebe, der sie ihr Leben gewidmet hatte, die einzige, die sich nicht verbrauchen oder verschwinden würde. Das Leben ihrer Töchter würde aufsteigen, wenn ihres verblaßte, sie würden ihre Hingabe in sich tragen, wie eine Art Wissen, das in ihren Adern floß. Für sie würden sie immer jung sein; sie würden bleiben, wie sie waren, im Sonnenschein gehen, bis zum Ende mit ihr reden. Sie las Alma Mahler. »Viri, hör dir das an«, sagte sie.
    Es ging um den Tod von Mahlers Tochter, die an Diphtherie erkrankt war. Sie waren aufs Land gefahren, und plötzlich wurde sie krank. Ihr Zustand verschlechterte sich zusehends. Am letzten Abend wurde ein Luftröhrenschnitt vorgenommen; sie röchelte, sie bekam keine Luft. Alma Mahler lief am Rand des Sees entlang, allein, schluchzend. Mahler, außerstande, den Schmerz zu ertragen, trat immer wieder an die Tür seiner sterbenden Tochter, aber er konnte sich nicht dazu bringen hineinzugehen. Er konnte es nicht einmal ertragen, zum Begräbnis zu kommen.
    »Warum liest du das?« fragte Viri.
    »Es ist so schrecklich«, gestand sie. Sie streckte die Hand aus und berührte seinen Kopf. »Du verlierst dein Haar.«
    »Ich weiß.«
    »Du verlierst es im Büro.«
    »Überall«, sagte er.
    Sie saß in dem Sessel mit dem weißen Bezug, ihrem Lieblingssessel - seinem auch; entweder saß der eine oder der andere darin, das Licht war gut zum Lesen, auf dem Tisch stapelten sich neue Bücher.
    »Oh Gott«, seufzte sie, »wir behandeln das Leben wie ein Kaufhaus. Abends sitzen wir hier, wir essen, wir bezahlen Rechnungen. Ich möchte nach Europa fahren. Ich möchte überallhin reisen. Ich möchte die Kathedralen von Wren sehen, die berühmten Gebäude, die Plätze. Ich möchte Frankreich sehen.«
    »Italien.«
    »Ja, Italien. Wenn wir dort sind, werden wir uns alles ansehen.«
    »Vor Frühjahr können wir nicht weg«, sagte Viri.
    »Ich möchte dieses Frühjahr fahren.«
    Die Gedanken ans Reisen begeisterten auch ihn. In London aufzuwachen, die Sonne fällt auf sie herab, vor dem Hotel warten schwarze Taxis, vier Jahreszeiten liegen in der Luft.
    »Ich möchte erst etwas darüber lesen. Ein gutes Buch über Architektur«, sagte sie.
    »Pevsner. «
    »Wer ist das?«
    »Ein Deutscher. Einer dieser Europäer, die in England merkwürdig heimisch werden - aber es ist schließlich das zivilisierte Land schlechthin - und ihr ganzes Leben dort verbringen. Er ist eine der Autoritäten.«
    »Ich würde gern mit dem Schiff fahren.«
    Die Winternacht legte sich um das Haus. Hadji, der langsam alt wurde, lag mit ausgestreckten Beinen an eins der Sofas gelehnt. Nedra wurde von einem Traum getragen, von Entdeckungslust. »Ich werd, glaub ich, einen Ouzo trinken«, sagte sie.
    Sie schenkte ihnen zwei Gläser aus einer Flasche ein, die Jivan zu Weihnachten mitgebracht hatte. Sie sah wie eine Frau aus, für die eine Reise nach Europa eine ganz normale Sache war: ihre Gelassenheit, ihr langer Hals, an dem Ketten von Azumaperlen hingen, hellgrau, blau und gelb, die Flasche in der Hand.
    »Ich wußte gar nicht, daß wir welchen haben«, sagte er.
    »Nur diesen Rest. «
    »Weißt du, wie Mahler starb?« sagte Viri. »In einem Gewitter. Er war sehr krank gewesen, hatte im Koma gelegen. Und dann, es war Mitternacht, zog ein gewaltiges Unwetter auf, und er verschwand darin, buchstäblich - sein Atem, seine Seele, einfach alles.«
    »Das ist phantastisch.«
    »Die Totenglocken läuteten. Alma lag im Bett und sprach mit einem Foto von ihm.«
    »Das ist typisch für sie. Woher weißt du das?«
    »Ich habe in deinem Buch schon weitergelesen.«

    Als sie an der Ecke bei Bloomingdale's standen - die

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