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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Menschen strömten an ihnen vorbei, streiften sie, die Busse dröhnten vorüber -, sagte sie zu Eve: »Damit ist es vorbei«, womit sie alles meinte, was sie genährt hatte, vor allem die Stadt, hinter deren äußerster Grenze sie Zuflucht gefunden hatte, noch ihrem Sog ausgesetzt, noch unter einem Himmel, der in der Ferne in ihrem Widerschein glühte. Als sie durch die Türen des Kaufhauses traten, betrachtete sie die Leute, die mit ihr hineingingen, die hinausgingen, Frauen, die sich an den Handtaschenständen weiter vorne etwas zeigen ließen. Die eigentliche Frage, dachte sie, ist: Bin ich eine von diesen Leuten? Werde ich eine von ihnen werden, so grotesk, verbittert, ausschließlich mit den eigenen Problemen beschäf-tigt, Frauen mit merkwürdigen Sonnenbrillen, alte Männer ohne Krawatte? Würde sie fleckige Finger haben wie ihr Vater? Würden sich ihre Zähne verfärben? Sie sahen sich Weingläser an. Alles, was zart und elegant war, kam aus Frankreich oder Belgien. Sie drehte sie um und las den Preis. Achtunddreißig Dollar das Dutzend. Vierundvierzig.
    »Diese hier sind schön«, sagte Eve.
    »Ich finde diese besser.«
    »Sechzig Dollar für ein Dutzend. Wann willst du die denn benutzen?«
    »Weingläser braucht man immer.«
    »Hast du nicht Angst, daß sie kaputtgehen?«
    »Das einzige, wovor ich Angst habe, sind die Worte ›ein ganz normales Leben‹«, sagte Nedra.
    Sie saßen bei Eve, als Neil kam. Er wollte seinen Sohn besuchen. Das Zimmer war zu klein für drei Personen. Es hatte eine niedrige Decke, einen winzigen Kamin, der mit Glas abgedeckt war. Das ganze Haus war klein. Es war ein Haus für einen Schriftsteller mit seiner Katze, abseits der Straße am Ende eines Privatweges, für einen disziplinierten Schriftsteller, wahrscheinlich homosexuell, der ab und zu einen Freund über Nacht bei sich schlafen ließ.
    »Wirklich übel, das mit Arnaud«, sagte Neil.
    »Es ist grauenvoll.«
    »Eve sagt, daß er... vielleicht nie wieder richtig sprechen wird«, sagte er in sein Wasserglas. Er hatte einen schmalen Mund, die Worte tröpfelten heraus.
    »Sie wissen es nicht.«
    »Möchtest du Tee?« fragte Eve.
    »Ich geh ihn machen«, sagte Nedra und stand schnell auf. Sie verschwand in der Küche.
    »Scheißwetter ist das«, murmelte Neil nach einer Pause.
    »Ja.«
    »Viel kälter als ... letzten Winter«, sagte er.
    »Ja, ich glaub auch.«
    »Hat was mit... der Umlaufbahn der Erde zu tun... ich weiß
    nicht. Es soll eine neue Eiszeit kommen.«
    »Nicht noch eine«, sagte sie.

4
    Die Jahreszeiten wurden zu ihrem Schutz, ihrer Kleidung. Sie fügte sich in sie, sie war wie die Erde, sie reifte, wurde welk, im Winter hüllte sie sich in einen langen Schafsfellmantel. Sie hatte viel Zeit, sie kochte, bastelte Blumen, sie sah, wie sich ihre Tochter in einen jungen Mann verliebte.
    Sein Name war Mark. Er machte wunderschöne Zeichnungen, klare Linien, ohne Schraffur, makellos wie die Vollards von Picasso. Er ähnelte ihnen; er war dünn, er hatte lange Beine, hellbraunes Haar. Er kam jeden Nachmittag, sie saßen stundenlang bei verschlossener Tür in ihrem Zimmer, manchmal blieb er zum Abendessen.
    »Ich mag ihn«, sagte Nedra. »Er ist suave.«
    Franca schlug das spanische Wort später nach. Glatt, gewandt stand da.
    »Sie mag dich. Sie sagt, du bist glatt.«
    »Ich soll was sein?«
    »Wie ein Fisch«, sagte sie.
    In Franca war er verliebt, aber Nedra verehrte er. Die Welt der beiden hatte eine geheimnisvolle Anziehungskraft. Sie war lebendiger, leidenschaftlicher als andere Welten. Das Zusammensein mit ihnen war wie auf einem Boot, sie trieben auf eigenem Kurs dahin. Sie erfanden ihr eigenes Leben. Sie trafen sich im Russian Tea Room. Der Oberkellner kannte Nedra; er führte sie zu einer der Sitznischen neben der Bar. Einer, die sie mochte. Nurejew hatte einmal in der Nähe gesessen. »An dem Tisch da«, sagte sie.
    »Ganz allein?«
    »Nein. Hast du ihn mal gesehen?« sagte sie. »Er ist der schönste Mann auf Erden. Man kann es einfach nicht fassen. Als er aufstand, um zu gehen, stellte er sich dort vor den Spiegel, knöpfte sich den Mantel zu, knotete den Gürtel. Die Kellner sahen zu, sie standen da, hingerissen wie Schulmädchen.«
    »Er kommt aus einer kleinen Stadt, das stimmt doch?« sagte Franca. »Sie wußten, daß er sehr talentiert war. Sie meinten, daß er nach Moskau zur Schule gehen müsse, aber er war zu arm, um die Zugfahrt zu bezahlen. Er mußte sechs Jahre warten, bis er sich die Fahrkarte

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