Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
Vom Netzwerk:
leisten konnte.«
    »Ich weiß nicht, ob das stimmt«, sagte Nedra, »aber es würde zu ihm passen. Wie alt bist du, Mark?«
    »Neunzehn«, sagte er.
    Sie wußte, was das bedeutete, welche Taten in ihm brannten, welche Entdeckungen ihm bestimmt waren. Er war als Austauschschüler ein Jahr in Italien gewesen, und Franca wollte das jetzt auch tun. Als Achtzehnjähriger hatte er in Southampton das Schiff verlassen. Auf einer Karte sah er, daß Salisbury nicht weit entfernt war. Salisbury, dachte er plötzlich, er erinnerte sich an Constables Gemälde der Kathedrale, ein Gemälde, das er kannte und bewunderte, und hier stand der Name auf der Karte. Er war von dem Zufall überwältigt, es war, als hätte ihm das einzige Wort, das er in einer fremden Sprache kannte, Glück gebracht. Er nahm den Zug, er hatte ein Abteil ganz für sich, er war entzückt, die Landschaft war berauschend, er war allein, durchreiste die Welt, und dann tauchte jenseits eines Tals die Kathedrale auf. Es war später Nachmittag, die Sonne fiel darauf. Er war so tiefbewegt, daß er applaudierte, sagte er.
    Viri traf ein und setzte sich. Er war sehr urban. In diesem Raum, zu dieser Stunde, strahlte er das Alter aus, das alle gerne hätten. Das Alter der Erfolge, der Anerkennung, das Alter, das wir nie erreichen. Vor sich sah er seine Frau und ein junges Paar. Franca war eindeutig eine Frau, plötzlich wurde ihm das bewußt. Er hatte irgendwie den Moment verpaßt, als es passiert war, aber er sah es klar vor sich. Ihr wirkliches Gesicht war aus dem jungen, freundlichen Gesicht des Kindes hervorgetreten und innerhalb einer Stunde leidenschaftlicher geworden, sterblich. Es war ein Gesicht, das ihm Ehrfurcht einflößte. Er hörte, wie sie eifrig »ja, genau« sagte, wenn sie Mark zustimmte, die Jahre ihrer Mädchenzeit lösten sich vor seinen Augen auf. Sie würde ihre Kleider ausziehen, nach Mexiko gehen, das Leben finden.
    »Willst du nichts trinken, Viri?«
    »Trinken? Doch, was trinkst du denn da?«
    »Es heißt Weiße Nächte.«
    »Laß mich mal probieren«, sagte er. »Was ist da drin?«
    »Wodka und Pernod.«
    »Das ist alles?«
    »Und viel Eis.«
    »Du errätst nie, wen ich heute im Fahrstuhl getroffen habe: Philip Johnson.«
    »Wirklich?«
    »Er sah phantastisch aus. Ich hab Hallo gesagt. Er trug einen wunderbaren Hut.«
    Mark sagte: »Meinen Sie Philip Johnson... «
    »Den Architekten.«
    »Warum hatte er den Hut auf?« fragte Franca.
    »Nun ja. Man kennt den Pfau an seinen Federn.«
    »Du bist genauso begabt wie er«, sagte Nedra.
    »Scheinbar hat ihn das nicht gestört.«
    »Ich werd dir einen wunderbaren Hut kaufen.«
    »Ein Hut wird auch nicht viel helfen.«
    »Einen großen rehbraunen Filzhut«, sagte sie. »Wie Zuhälter ihn tragen. «
    »Ich glaube, du hast da irgendwie den falschen Eindruck bekommen.«
    »Wenn Philip Johnson einen Hut hat, kannst du auch einen Hut haben.«
    »Das ist wie der Witz mit dem Schauspieler, der auf der Bühne tot umfällt«, sagte Viri. »Kennst du den?« Er wandte sich an Mark. Es war eine von Arnauds Geschichten, bissig und einfach. »Es war im Jiddischen Theater. Ich glaube, er hat Macbeth gespielt.«
    »Der Vorhang fiel, aber jeder merkte, daß etwas nicht stimmte«, sagte Nedra. »Zum Schluß kam der Direktor raus und sagte, etwas Schreckliches sei passiert, wirklich schrecklich, er sei tot.«
    »Aber eine Frau im ersten Rang ruft dauernd: ›Gebt ihm Hiehnerbriehe. Gebt ihm Hiehnerbriehe! ‹ Und der Direktor steht da, neben ihm die Leiche, und schließlich ruft er: »Verstehen Sie nicht. Er ist tot! Hiehnerbriehe wird ihm auch nicht mehr helfen, gute Frau!‹ - ›Schaden kann's nicht‹ sagt sie.«
    Sie erzählten die Geschichte gemeinsam, so einfühlsam, wie sich früher ihr Leben ineinandergefügt hatte. Niemand kannte Nedra so gut wie Viri. Sie waren die Besitzer eines riesigen, ungeordneten Unternehmens; sie hatten sich allem gemeinsam gestellt. Als er sich abends auszog, war er wie ein Diplomat oder Richter. Ein weißer Körper, weich und kraftlos, entstieg den Kleidern, seine Stellung in der Welt lag, von den Knöcheln gerutscht, zusammengefallen auf dem Boden; er war nach-sichtig, er war wie ein Frosch, ein Hauch von Melancholie lag in seinem Lächeln.
    Er knöpfte sich den Pyjama zu, bürstete sich das Haar.
    »Gefällt er dir?«
    »Mark?«
    »Ich glaub, daß sie miteinander schlafen.«
    Ihre Sachlichkeit versetzte ihm einen Stich. »Ach. Und warum?«
    »Hättest du etwa nicht?« fragte sie.

Weitere Kostenlose Bücher