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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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nicht so fein war wie das von Franca. Es war menschlicher, nicht so geheimnisvoll; es hätte das eines Zimmermädchens oder einer jungen Krankenschwester sein können. Und ohne Schminke schien es sogar noch ehf licher, offener, man konnte darin lesen wie in einer Handfläche. Er saß in der Küche, und seine Tochter machte ihm Tee. Diese einfache Handlung, die wie ein Liebesbeweis ganz ohne Falsch war, berührte ihn tief. Verwirrt wurde ihm klar, daß dies wie ein altes Möbelstück in einem Altenheim war, das für jemand anderen keinerlei Bedeutung hätte, aber in diesen schlechten Zeiten war es alles, was er hatte.
    Sie saß bei ihm. In ihren fraulichen Gesten, ihren Bewegungen, ihren klaren direkten Blicken sah er ständig ihre Mutter vor sich.
    »Wie war das Stück?« fragte sie.
    »Offenbar war es ziemlich beeindruckend«, sagte er. »Es hat mich in eine Art Verrückten verwandelt, der durchs Haus rennt und nach deiner Mutter schreit.«
    »Ja. Es war seltsam. Als ich aufwachte, dachte ich einen Moment lang, sie müßte hier sein.«
    Er trank seinen Tee. Er hörte das Klacken von Hadjis alten Pfotennägeln auf dem Boden. Der Hund setzte sich zu seinen Füßen, sah zu ihm hoch, hungrig wie alle Alten. Sein Hund, der im atemberaubenden Schnee gerannt war, mit kräftigen Beinen, jung, die Ohren zurückgelegt, mit scharfen Augen, seinem reinen Geruch. Ein Leben, das in einem Augenblick vorüber war.
    Er sah seine Tochter an. So wie ein Spieler, der alles verloren hat, sich leicht vorstellen kann, wieder im Besitz seines Geldes zu sein, wenn er sich überlegt, wie tückisch, wie ungerecht der Hergang war, durch den er es verloren hatte, so wollte auch er manchmal nicht wahrhaben, was passiert war, oder aber er war sich sicher, daß sich seine Ehe irgendwie wiederherstellen würde. So viel von ihr war noch da. »Wie geht's der Missus?« fragte Captain Bonner immer. Er sammelte altes Zeug von der Straße auf. Die meiste Zeit erkannte er Viri nicht. War die Frage bösartig gemeint oder einfach nur dumm? Fleckige braune Anzugsjacke, eine Strickmütze, ein altes Clownsgesicht, ein gelbes Gesicht, die Zähne längst ausgefallen, lächelnd, während er an etwas denkt, an Essen oder Frauen? Er trug eine Tür die Straße hinunter; er sprang vor das Auto, als Viri auf ihn zufuhr, mit einer Hand winkend, forderte von ihm, ihn mitzunehmen.
    »Ich fahr in die Stadt«, erklärte er ihm. Er konnte die Tür nicht ins Auto bekommen. Er mühte sich ab. »Ich werd sie aufs Dach legen«, sagte er. »Ich kann sie mit der Hand festhalten. «
    Die Haut an seinen Händen war blau, dünn wie Papier, auf seinen vertrockneten Wangen standen Stoppeln. Seine Schuhe sahen wie schmutzige Pantoffeln aus, die Spitzen nach oben gebogen.
    »Schönes Wetter«, sagte er. Er roch nach Wein. Dann, nach einer Pause, diese beiläufige Frage nach Nedra.
    »Ihr geht's gut«, antwortete Viri. »Danke.«
    »Ich hab sie lange nicht gesehen.«
    »Sie ist in Europa.«
    »Europa«, sagte der alte Mann. »Ah. Da gibt's 'ne Menge schöne Orte.«
    Viri beobachtete die Tür, die etwas über die Windschutzscheibe ragte. »Waren Sie schon mal da?« fragte er zerstreut. »Nein. Nein, ich doch nicht«, sagte Bonner. »Ich hab hier schon genug gesehen.« Es folgte eine Pause. »Zuviel«, fügte er hinzu.
    »Was meinen Sie mit zuviel?«
    Der alte Mann nickte. Er lächelte vage vor sich hin, in den weißen Sonnenschein hinein. »Es ist ein Traum«, sagte er. Das Haus roch noch immer nach ihren Blätterschälchen, der Garten verwilderte allmählich. In einer Schublade eines Schreibtischs, auf den die Sonne fiel, lagen Schulhefte der Kinder aus vergangenen Jahren. Franca hatte jedes einzelne aufgehoben, ihre Schrift war so musterhaft, so ordentlich.
    Das Fest war vorbei. Wie in der Geschichte, die er ihnen so viele Male vorgelesen hatte - von dem armen Paar, dem drei Wünsche gewährt wurden, die es vergeudete -, hatte er nicht genug gewollt. Er konnte es deutlich sehen. Letzten Endes hatte er sich nur eines gewünscht, und das war viel zuwenig gewesen: Er hatte sich gewünscht, sie möchten in dem allerglücklichsten Zuhause aufwachsen.

5
    Eine der letzten großen Erkenntnisse ist, daß das Leben nicht so sein wird, wie man es sich erträumt hat. Er ging zu einem Dinner bei den Daros. Es waren Leute da, die er nicht kannte. »Wie geht es Ihnen?« sagten sie. Gutaussehende Menschen, die sich wohl fühlten. Die Frau trug ein smaragdgrünes bodenlanges Kleid, eine goldene

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