Lichtjahre
»Weil es keinen Schmerz kennt. Was ist denn ein Leben ohne ein wenig Traurigkeit hin und wieder? Zeigen Sie es mir mal?« fragte er. »Fahren Sie mal mit mir dahin?«
Sie dachte an ihr Haus. Plötzlich, obwohl sie darin aufgewachsen war und es bei jedem Wetter kannte, sehnte sie sich dahin zurück, so wie man sich danach sehnt, ein bestimmtes Buch wieder in Händen zu halten, obwohl man jeden Satz darin kennt, so wie man sich nach Musik oder Freunden sehnt. In ihrem Leben, das jetzt mehr vom Zufall geprägt war, das von anderen Leben gestreift wurde wie Seetang im Meer, in der Stadt, die der große unerklärliche Stern war, auf den ihr Vorort mit seinen Dächern und ruhigen Tagen immer ausgerichtet gewesen war - tauchte dieses geliebte Haus durch die Worte eines Fremden plötzlich wieder in ihrem Gedächtnis auf. Wie alte Kirchhöfe im Herzen der Geschäftswelt, wurde es auf einmal unauslöschbar.
Es hatte sich viel verändert. Ihre Mutter war fort. Das Haus existierte ohne sie, wie leere Kleider existieren, Fotos, verlegte Ringe. Es war Teil dieser Erinnerungen, es enthielt sie, gab ihnen Atem.
»Ja, ich nehm Sie mal mit«, sagte sie.
Nile fuhr. Die Sonne strahlte weiß auf sein Gesicht. Sie konnte sein Profil genau betrachten, während er geradeaus sah.
»Sind wir richtig?« fragte er.
»Ja. «
Seine Haut war blaß. Sein ungekämmtes Haar spaltete sich an den Spitzen. Es wurde schon dünn, was ihr irgendwie gefiel, als wäre er krank gewesen, und sie würde sehen, daß er wieder zu Kräften kam.
Eine halbe Meile vom Haus entfernt sah sie plötzlich voller Entsetzen, daß man die Erde aufgerissen hatte. Sie errichteten Apartmenthäuser, die Form der riesigen Fundamente war unverkennbar, es war später Nachmittag, die gelben Baumaschinen standen verlassen da.
»Oh, mein Gott«, sagte sie.
»Was?«
»Sieh doch, was sie machen.«
Die Bäume, die wenigen alten Häuser waren weggefegt, es gab nur noch kahle, zerstörte Erde. Sie weinte fast. Irgendwie hätte das nie passieren können, solange Nedra noch da war -nicht, daß sie es hätte verhindern können, aber ihre Abreise war in gewissem Sinne die Todesglocke. Ereignisse brauchen eine Einladung, Zerfall einen Anfang.
Über allem lag der Schatten der Veränderung. Ihr erster Blick aufs Haus, von einer Stelle der Straße aus, die sie gut kannte - die Schornsteine über den Bäumen, die Konturen des Dachs -, ließ in ihr ein Gefühl der Trauer aufkommen, als sei es dem Untergang geweiht. Es schien leer, es schien still. Die Kaninchen, die vor Hadji geflüchtet waren - waren sie wirklich vor ihm geflohen, sie schlugen so schnelle Haken, sie sprangen, sie lösten sich in Luft auf-, alles fort.
Sie parkten in der Auffahrt. Es war nach fünf. Niemand war da. Nile stand vor dem Haus und sah es sich an, die Bäume, den terrassenförmig angelegten Rasen. »Hier bist du also aufgewachsen?«
»Ja.«
»Kein Wunder«, sagte er.
Sie gingen zum Ponystall; es lag noch ein bißchen Stroh herum. Sie saßen im Wintergarten mit seinem Kiesboden. Die Sonne setzte die Scheiben in Brand. Sie ging etwas Wein holen.
»Wie hast du es je geschafft, dich über all das hier hinwegzu-setzen?« fragte er.
»Ich weiß nicht.«
»Es ist ein Rätsel. Was für ein Leben du geführt hast. Es ist so überlegen. Ich mein, ich könnte dir ein Dutzend Dinge nennen, aber es liegt auf der Hand.« Er meinte es ernst. Er roch aus dem Mund.
»Laurence hat hier gelebt«, sagte sie.
»Laurence. ..«
»Ein Kaninchen.«
Das Sonnenlicht fiel glitzernd wie Zimbeln durch die Glas-flächen. In der stillen Luft lag ein leichter Geruch von Wein. Die ferne Erinnerung an das Kaninchen - sein schwarzes Fell, seine langen Nagezähne - kam über sie wie ein Erröten.
»Hast du schon mal mit Kaninchen zu tun gehabt?« fragte sie.
»Ab und zu«, sagte er. »Sehr unregelmäßig. Einmal hab ich in einem Labor gearbeitet. Da gab es diesen großen belgischen Hasen, sie hieß Judy. Meine Güte, konnte die beißen!«
»Ja, das tun sie.«
»Ich mußte meinen Mantel anbehalten.«
»Laurence hat auch gebissen.«
»Alles und jeder tut das«, sagte er. »Was ist aus Laurence geworden?«
»Er ist gestorben. Es war im Winter. Es war sehr traurig. Du weißt, wie das ist, wenn Tiere krank sind. Man möchte so gerne etwas für sie tun. Wir haben ihn in ein Bett aus Stroh gelegt und ihn zugedeckt, aber am Morgen war er nicht mehr da.«
»Ist er weggelaufen?«
»Er lag in einer Ecke, irgendwie zur Seite gefallen.
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