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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Kind, ein kleiner Junge, der hinter einer Tür ein Gespräch mit anhört, das nicht für seine Ohren bestimmt ist, eine Aussage, die ihn für sein Leben zeichnen wird.
    Er sah sich die Gesichter der anderen an, die seitlich vor ihm saßen, erhobene Gesichter, vom Schein der Bühne erhellt. Er war so vollkommen hilflos, so unfähig, eine Antwort zu geben, zu diskutieren, ja, nicht einmal fähig, sich eine Welt vorzustellen, die sich nicht gemäß der Energie bewegte, die er vor sich wahrnahm, daß es schien, als wäre er frei; er konnte zuhören, beobachten, es bedurfte keiner Anstrengung. Er reiste endlos, hundertmal weiter als das Stück, er lebte sein eigenes Leben rückwärts und vorwärts, er lebte das Leben der anderen, er hatte Phantasien über Frauen, die drei Reihen vor ihm saßen.
    Danach, als alle aufbrachen, stand er am Eingang, intelligent, gefaßt, während das Publikum sich schnell verlief und in der Nacht verschwand. Es schien, als zöge mit all diesen Menschen, die ein Ziel hatten, diesen Männern und Frauen, die miteinander verheiratet, die in Langeweile und alltäglichen Katastrophen vereint waren, die Wahrheit an ihm vorbei. Er war immer einer von ihnen gewesen, obwohl er es geleugnet hatte; jetzt war er es nicht mehr.
    Er ging halbverlassene Straßen entlang, beleuchtet vom Neon chinesischer Restaurants, von den Eingangstüren billiger Hotels. Er dachte an seine Frau, dachte daran, wo sie jetzt war. Er war noch nicht frei von ihr, ihrer Zustimmung, ihren Eigenarten. Plötzlich sah er zwanzig Schritte vor sich seinen Vater. Einen Moment lang konnte er es nicht glauben. Sie gingen in dieselbe Richtung. Er sah genauer hin: der Gang, die Kopfform, ja, sie waren unverkennbar. Die Wirklichkeit fiel in Schichten von ihm ab, in großen Segmenten, die schon bis in sein Inneres reichten. Ein alter Mann, der die Straße entlanggeht, den Mund leicht geöffnet, die Augen wäßrig und müde. Sie kamen auf eine Kreuzung zu, eine Ecke, an der Viri ihn deutlich sehen würde, sein Herz begann zu rasen, er wollte ihn nicht sehen, er hatte Angst. Es war, als würde sich gleich ein Sargdeckel öffnen und ein Mann, kränker denn je, hervorkommen, mit schwarzen Falten an den Mundwinkeln, nach Zigarren stinkendem Atem. Er würde Medizin und Pflege benötigen. Er wird mich um Geld bitten, dachte Viri verzweifelt. Auf seinen Wangen würde dieser graue Schatten liegen, diese Traurigkeit alter Männer, die sich nicht rasiert haben. Umarmungen derer, die uns schon verlassen haben, die Wiederholung unerträglicher Qualen. Um Himmels willen, Papa, dachte er. Aufgewühlt durch das Theaterstück, zitterte er vor Empfindung, aber er war zugleich kraftlos, wie eine Auster, die man aus ihrer Schale geschnitten hat. Komm nach Hause, dachte er, komm nach Hause und stirb!
    Er starrte den Fremden unter der Straßenlaterne an, sein Gesicht war von der Stadt gezeichnet, ungesund, dunkel vor Gier. Einen Moment lang waren sie wie Männer in einem Bahnhof, allein auf dem Bahnsteig. Sie betrachteten einander kalt und wandten sich ab. Er stand an der Ecke, während der alte Mann weiterging, einmal kurz zurückblickte, mißtrauisch. Er sah kein bißchen wie Isaac Berland aus. Die leeren Ladenfronten verschluckten ihn, die dröhnenden Busse, die Nacht.
    Es war spät, als er das Haus erreichte. Hadji bellte in der Küche; er war so alt, daß es sich wie eine Säge anhörte. Das Haus hatte sich verändert; er spürte es plötzlich, als er die Tür öffnete. Er kannte dieses Haus, ihm war, als würde sich jemand darin verstecken, ein Einbrecher, den Körper flach an die Wand gedrückt - nein, seine Phantasie war überreizt. Als er von Zimmer zu Zimmer ging - sein Hund hatte nach einer Weile das Interesse verloren und sich hingelegt, er selbst war ruhig, ergeben und nahm die Gefahr hin -, da wurde ihm allmählich bewußt, daß es leer war.
    »Nedra!« begann er zu rufen. »Nedra!«
    Er lief, während er ihren Namen rief, durch die Räume, als gäbe es einen dringenden Telefonanruf für sie. »Nedra!«
    Er zitterte, er war außer sich. Im Laufen drehte er die Lichter an, dann, im Flur, stieß er unerwartet auf seine schlaftrunkene Tochter, die verwirrt murmelte: »Was ist los, Papa? Was ist denn passiert?«
    »Oh Gott«, rief er aus.
    Sie machte ihm in der Küche einen Tee. Sie war barfuß, im Bademantel, ihr Gesicht noch vom Schlaf verquollen. Als er dankbar am Tisch saß, ein wenig lächerlich, ein wenig beschämt, fiel ihin auf, daß ihr Gesicht

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