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Lichtjahre

Lichtjahre

Titel: Lichtjahre Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Salter
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Seine Augen standen offen, aber er war schon steif geworden; als wäre er aus Draht. Wir haben ihn im Garten begraben. Er war größer, als wir dachten, wir mußten das Loch immer breiter machen. Sein Fell war noch warm. Ich hab die Erde mit bloßen Händen auf ihn geworfen. Ich hab geweint, wir beide haben geweint, und ich hab ein Gebet gesprochen: Oh Gott, nimm es auf, Dein Kaninchen... «
    Sie hatte im Garten geweint, in der Kälte. Sie hatten einen glatten grauen Stein gefunden und angefangen, den Namen hineinzumeißeln, aber es wurde nie fertig; er war noch immer da, versteckt unter Unkraut. LAU...
    »Deine Schwester - wie heißt sie noch?«
    »Sie hat ihren Namen geändert.«
    »Was meinst du damit?«
    »Na ja, ihr Name ist Danny, aber jetzt heißt sie Karen.«
    »Karen?«
    »Es ist eine lange Geschichte. Sie ist mit jemandem zusammen, der findet, daß sie so heißen sollte.«
    »Verstehe.«
    »Na ja...« Franca zuckte die Achseln. »Das ist nicht das einzige. Das ist nur eine Kleinigkeit. Sie hat sich für ihn die Ohrläppchen durchstechen lassen. «
    »Verstehe.«
    »Was er auch sagt... «
    Nile nickte, als verstünde er. Das Aufblitzen dieser Opferbereitschaft blendete ihn, er war beeindruckt von dem Tun dieser Schwester. Er konnte sie sich nicht vorstellen, er war verwirrt wie durch zu helles Licht. Je größer das Verlangen, etwas zu wissen, desto schwerer ist es, danach zu fragen. Er wollte etwas sagen. In den Zimmern über ihm, den Fluren, an den Vorhängen dieser Fenster, hatten die beiden Mädchen ihre Jugend verbracht. Fragen überschwemmten ihn; was immer er wußte, es war im Vergleich zu dem hier nicht viel wert.
    »Verstehe«, murmelte er.

4
    Tote Fliegen auf sonnigen Fensterbrettern, Unkraut an den Rändern des Gartenweges, die Küche leer. Das Haus war melancholisch, trügerisch; es war wie eine Kathedrale, in der - inmitten einer heiteren Ruhe - etwas nicht stimmt, die Heiligen sind nur Wachsfiguren, die Orgel eine Fassade. Viri war zu deprimiert, um etwas dagegen zu tun. Er lebte hilflos in dem Haus, so wie wir in unseren Körpern leben, wenn wir alt werden.. Alma kam weiterhin dreimal die Woche, um zu putzen und Staub zu wischen. Er legte ihr jeden Freitag einen Umschlag mit vierzig Dollar hin, sah sie aber selten. Es war, als wäre etwas Schreckliches über ihn gekommen - Blindheit oder der Verlust eines Gliedes, etwas Unwiderrufliches. Kein noch so großes Mitgefühl konnte ihm helfen, keine Ablenkung ließ es verblassen. Eines Abends sah er im Theater eine Inszenierung von Ibsens Baumeister Solness. Die Deckenlichter erloschen, die Bühne verströmte ihren Zauber. Es war wie eine Anschuldigung. Plötzlich schien sein Leben, das Leben eines Architekten wie in dem Stück, bloßgestellt. Er schämte sich, weil er so unbedeutend war, so grau, so müde. Als auf der Bühne Solness das erste Mal mit seiner jungen Geliebten und Buchhalterin sprach, als er ihr das erste Mal zuflüsterte, spürte Viri, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich, spürte, wie die Leute ihn anstarrten, als hätte er einen unwillkürlichen Schrei ausgestoßen.
    Als Solness in jener ersten Szene, in der er endlich mit ihr allein ist, grimmig nach ihr ruft und sie ängstlich »Ja?« antwortet. Als er sagt: »Kommen Sie hierher!« Und sie kommt. Und er sagt: »Näher! « Und sie gehorcht und fragt: »Ja, was -was ist denn?« Viri war wie zerstört; sein Herz gab einen Moment lang nach, es setzte aus.
    Und als Solness - und all das am Anfang, bevor er Gelegenheit hatte, sich darauf vorzubereiten, und wie sollte man sich auch vorbereiten? - sagt: »Denn ich kann nicht ohne Sie sein, nicht einen Tag. Muß Sie immer hier in meiner Nähe haben.« Und sie zitternd antwortet: »Oh Gott! Oh mein Gott! « Und niedersinkt und flüstert, wie gut er zu ihr sei, wie unglaublich gut. Ihr Name - er konnte es nicht fassen - lag gedruckt auf seinem Schoß: Kaja.
    Das war nur der Anfang. Während das Stück weiterging, während Viri Akt für Akt zusah, verlor er langsam die Kraft zu widerstehen, das Stück wurde zu jenem gefährlichsten Ding überhaupt: einem unvergeßlichen Gleichnis, unvergeßlich und falsch. Gefesselt durch seine Kraft, durch Sätze, die ihn wie Pfeile durchbohrten, durch eine Geschichte, deren Ende schon geschrieben war, deren Zeilen im Gehirn der Schauspieler in genau der Reihenfolge gespeichert waren, in der sie gesprochen werden sollten - obwohl er es niemals auch nur wagen würde, sie sich vorzustellen -, war er wie ein

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