Lichtschwester - 8
Fäden. Traurig versuchte sie, die zerknitterten Seiten zu glätten. Das war ihr erstes Zauberbuch … Ihr Vater hatte es ihr zum zwölften Geburtstag geschenkt.
»Du wirst einmal eine große Zauberin sein«, hatte er gesagt, als er ihr den damals schon alten und abgenutzten Band gab. »Das war auch mein erstes Magiebuch … Dein Großvater hat es mir vermacht, als ich so alt war wie du«, hatte er mit freudestrahlenden Augen hinzugefügt. »Und von nun an soll es dir gehören.« »Aber ich bin doch nur ein Mädchen«, hatte sie ihm erwidert. »Ich kann doch nicht wie du das Zaubern lernen.« »Unsinn. Du bist meine Tochter, ja? In dieser Familie werden alle Zauberer.« Dann hatte er sie einen Moment lang scharf angesehen. »Ich konnte nicht zur Schule gehen, weil dein Großvater mich hier zu sehr brauchte. Aber du wirst diese Chance haben. Und ich werde dafür sorgen, daß du sie nutzen kannst.« Darauf hatte er das Buch aufgeschlagen und ihr die erste Stunde im Zaubern gegeben.
In den folgenden Jahren hatte er ihr fast alles beigebracht, was er über die Magie wußte. Er hatte ihr die verschiedenen Kräuter und Wurzeln gezeigt und erklärt, wozu sie in der Heilkunst nütze waren. Sie hatte auch gelernt, die wilden Tiere zu verstehen und ihre Fährten zu deuten, und hatte ihm sogar bei seiner Arbeit für die Dörfler und Bauern geholfen.
Als sie zum Internat aufgebrochen war, war er überzeugt gewesen, daß sie für alles gewappnet sei - keiner von ihnen beiden hatte geahnt, daß die Mitschüler für sie das größte Problem darstellen würden. Jetzt war sie schon seit zwei Monaten in dieser Schule -aber niemand nahm sie hier ernst. Keiner traute ihr zu, daß sie eine richtige Zauberin werden könnte.
Nun murmelte Terri - ohne nachdenken zu müssen - den Zauber, der ihr so arg ramponiertes Buch wieder instand setzen sollte. Und da wurde die Bindung wieder heil, nähte sich der Einband von selbst wieder zusammen. Das Buch war jetzt wieder so fest und schön wie zuvor … Terri riß verblüfft die Augen auf. Wenn sie allein war, fielen ihr diese Sprüche anscheinend im Handumdrehen ein.
Weshalb nur konnte sie nicht auch vor den Jungs so zaubern?
Aber nun fiel ihr siedendheiß ein, daß sie viel zu spät dran war, und so las sie schleunigst ihre Siebensachen auf und lief weiter. Vor der Klassenzimmertür zögerte sie. Storos machte ihr immer so Angst. Vielleicht wäre es besser, seine Stunde zu schwänzen, als bei ihm zu spät zu kommen. Aber wenn sie schwänzte … würden die Jungs nur glauben, sie traue sich nicht zu ihnen herein. Entschlossen stieß sie die Tür auf und ging hinein. In der Klasse trat eine tödliche Stille ein. Storos sagte kein Wort und starrte sie nur an, als sie scheu zu ihrem Platz schlich und sich setzte. »Guten Morgen, Terri«, sagte er sodann - mit sanfter Stimme, aber stahlharten Augen. »Wie schön, daß du uns heute die Ehre gibst!«
Die Jungs begannen zu kichern, verstummten aber schlagartig, als Storos sich zu ihnen umdrehte.
»Ich hoffe doch, daß du dich bei mir künftig an den Stundenplan hältst«, fuhr Storos nun fort und sah wieder Terri an. »Ich dulde keine Unpünktlichkeit.«
»Ja, Meister«, erwiderte sie beschämt. Einer der Jungs feixte. Storos drehte sich wieder zu seiner Schiefertafel um und fuhr mit dem Unterricht fort. Terri hörte aufmerksam zu, mußte aber an all die Gerüchte denken, die sie in den zwei Monaten über ihn gehört hatte - Gerüchte, die besagten, daß er nicht sei, was er scheine. Offenbar konnte sich keiner an eine Zeit erinnern, zu der er noch nicht an dieser Schule gewesen war … Dann müßte er ja weit über zweihundert Jahre alt sein, dachte sie, aber das kann doch nicht sein… nur Kobolde, Trolle und Drachen werden so alt! Nun musterte Terri ihn eingehend. Ja, er sah aus wie ein Mensch -aber die Gerüchte behaupteten, daß er etwas anderes, etwas nicht so ganz Menschliches sei. Fröstelnd suchte sie sein Gesicht nach einem Anzeichen seiner Kobold- oder Trollnatur ab. Sein schwarzes Haar, seine gebogene Nase und seine hohen, sichelförmigen Brauen gaben ihm ein recht wildes Aussehen, das aber durchaus menschlich war.
Mit seinen schwarzen Roben, die er allzeit trug, und seinen scharfen Augen, denen nichts zu entgehen schien, erinnerte er sie irgendwie an einen riesigen Raubvogel. »Nun denn, Terri…«, sagte Storos und holte sie damit jäh in die Gegenwart zurück. »Nun zeig uns mal, daß du deine Hausaufgabe gut erledigt
Weitere Kostenlose Bücher