Lichtzeit - Gibson, G: Lichtzeit - Nova War
Angst vor unerträglicher Folter und der Aussicht, nie wieder frei zu kommen -, verdrängte die Furcht vor einem Sturz in den sicheren Tod.
Und dann – ohne weiter über die möglichen Konsequenzen nachzudenken – reckte er sich hinaus ins Leere und krallte seine Hände in eine der Furchen, ohne sich einen Blick nach unten zu gestatten.
Es dauerte nicht lange, bis die ersten Probleme auftauchten.
Der Wind hatte zu scharfen Böen aufgefrischt, die Regenschleier vor sich her peitschten und die Turmwand glitschig machten. Doch eine Verbissenheit, die schon den Keim des Wahnsinns in sich trug, trieb ihn dazu an, trotz des ungeheuren Risikos nach unten zu fassen und sich Stück für Stück in die Tiefe vorzuarbeiten. Mit den bloßen Zehen ertastete er einen Vorsprung, auf dem er Tritt fassen konnte, nach dem anderen, und der Umstand,
dass sich der Turm leicht nach innen neigte, ehe er seinem Mittelpunkt zustrebte, kam ihm ein wenig zugute.
Während der ersten Minuten seines spontan beschlossenen Abstiegs wäre Corso um ein Haar abgestürzt, als ein jäher Windstoß ihn mitzureißen drohte. Er ermüdete schnell, seine Muskeln schmerzten, er bekam Atemnot und rang verzweifelt nach Luft. Obendrein schrammte er sich an der rauen Oberfläche der Wand die Hände und Knie blutig. Obwohl er kein Schwächling war, wandte er aus purem Entsetzen, ungesichert eine derart steile und hohe Wand hinunterklettern zu müssen, mehr Kraft als notwendig auf, um sich an den einzelnen Griffen festzuklammern, was ihn zusätzliche Energie kostete.
Doch allmählich gelang es ihm, immer tiefer und dabei ein Stück seitwärts zu klettern, während er sich mit übertriebener Vorsicht auf die nächste Plattform zubewegte.
Er hatte ungefähr ein Drittel der Wegstrecke zurückgelegt und sich dabei kräftemäßig sehr viel schneller verausgabt als erwartet, als er merkte, dass er beobachtet wurde. Bei einem raschen Blick nach unten entdeckte er einen einzelnen Bandati, der auf dem Dach eines der windschiefen Gebäude hockte, die sich auf der nächsten Plattform drängten. Der Bandati peilte zu ihm hinauf, und Corsos fieberhafte Visionen einer geglückten Flucht wurden schlagartig abgelöst von abgrundtiefer Verzweiflung, geboren aus der absoluten Gewissheit, wieder eingekerkert zu werden.
Aber seine brennenden Muskeln verdeutlichten ihm, dass er gar nicht mehr zurückkonnte. Ihm blieb gar nichts anderes übrig als weiterzuklettern.
Also setzte er seinen mühsamen Weg nach unten und zur Seite hin fort, bemüht, die Schmerzen in den Händen und Füßen zu ignorieren. Wenn er es nur schaffte, sich so weit seitlich zu bewegen, dass die nächste Plattform direkt unter ihm lag …
Abermals linste er hinunter. Auf dem First eines steil abfallenden Dachs kniend, mit im Wind flatternden Flügeln, visierte
der Bandati ihn immer noch an. Corso erkannte, dass das Dach nicht aus einer festen, starren Fläche bestand, sondern aus einer Art Stoff, das sich straff über ein Gerüst spannte.
Tief drunten, unglaublich fern, sah er den Fluss, der sich friedlich am Sockel des Turms vorbeiwand. Ein dumpfes Dröhnen füllte seine Ohren, sämtliche Gedanken auslöschend, und die Schmerzen in seinen Armen und Beinen wurden auf einmal unerträglich.
»Hey, ich brauche Hilfe!«, brüllte er mit ganz gewiss seiner letzten Kraft zu dem Bandati hinunter. »Bitte!«
Doch der Alien glotzte ihn nur mit großen, leeren Augen an, die Schwingen sorgfältig angewinkelt, um dem kräftigen Wind zu trotzen, der ihn umtoste. Ansonsten hockte er regungslos auf seinem Hochsitz und glich eher einem exquisit gestalteten, abstrakten Schmuckstück als irgendeinem lebenden Wesen.
Weinend und fluchend drückte Corso seine Stirn gegen die raue Wand des Turms. Doch dann riss er sich zusammen und spürte, wie eine Art grimmiger Entschlossenheit von ihm Besitz ergriff. Zuerst lockerte er eine Hand, danach die andere; sich mit beiden Händen festhaltend, entkrampfte er hintereinander beide Füße. Doch diese Übungen linderten nicht die brennenden Schmerzen in seinem Rücken, den Schultern und den Schenkeln, und das rasende Hämmern seines Herzens füllte seine Ohren. Trotz der Widrigkeiten gelang es ihm, sich immer näher an die Plattform heranzuquälen, indem er Meter für Meter diagonal nach unten kletterte. Mit eisernem Willen kämpfte er sich die lotrechte Wand hinab, während er sich ständig fragte, wie viele Sekunden ihm noch blieben, ehe er ohnmächtig würde und ganz einfach
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