Lichtzeit - Gibson, G: Lichtzeit - Nova War
den Halt verlor .
Plötzlich glitt er aus und rutschte mit beiden Füßen ab. Sich nur mit den Fingern festkrallend, unterdrückte er einen Schrei, der aus den Tiefen seiner Lungen hochstieg. Die Plattform war immer noch ziemlich weit von ihm entfernt, doch zumindest lag
sie jetzt fast direkt unter ihm. Ein Bein ausstreckend, versuchte er, einen festen Halt für seine Zehen zu ertasten …
Ein neuer Schwall aus warmem Regen klatschte ihm ins Gesicht, und im nächsten Moment fiel er durch die vom Wind gepeitschte Luft.
Dieses Mal löste sich ein Schrei aus Corsos Kehle, während er in die Tiefe sauste, ein dünnes, jämmerliches Geheul. Mit der Schulter prallte er heftig gegen irgendetwas, und inmitten eines Schauers aus Trümmerstücken und Materialfetzen kollerte er weiter hinunter, ehe sein Körper endlich aufhörte, sich zu überschlagen. Reglos blieb er liegen, wie betäubt von der Vorstellung, er könnte noch am Leben sein.
Zaghaft öffnete er die Augen und starrte nach oben; genau über ihm befand sich in einer Dachkonstruktion ein Loch, durch das der frühmorgendliche Himmel zu sehen war. Rings um ihn her türmten sich Teile des zerbrochenen Gebälks, und mit spitzen Fingern hob er ein Fragment des Dachstuhls auf. Als er probeweise dagegendrückte, merkte er, wie extrem zerbrechlich und spröde der Baustoff war, doch dieses Konstrukt hatte genügt, um seinen Sturz zu bremsen.
Er vernahm ein Geräusch wie von raschelndem Papier, und gleich darauf huschte ein geflügelter Umriss durch die Lücke im Dach, um mit einem dumpfen Knall auf einem in der Nähe stehenden Stapel staubiger Kisten zu landen. Corso zuckte zusammen, als er sich aufrichtete, ein stechender Schmerz in seiner Schulter zwang ihn dazu, sich übertrieben vorsichtig zu bewegen. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatte er sich die Schulter ausgekugelt.
»Haben Sie sich verirrt?«, fragte eine Stimme, die aus der Richtung des Bandati kam. Er peilte zu dem Wesen hinüber, dessen Schwingen reflexhaft in der Luft flatterten und Staubfontänen zu dem zerstörten Dach hochwirbelten. Ein winziger Lichtpunkt in der Düsternis zeigte einen Translator an, der exakt so aussah
wie die Geräte, die seine Folterknechte bei ihren Verhören benutzt hatten.
Verdutzt, das Gesicht geschwärzt von jahrzehntealtem Staub, glotzte Corso den Bandati an; er wusste nicht recht, ob diese Kreatur tatsächlich in einer verständlichen Weise mit ihm gesprochen hatte, oder ob er sich das Ganze nur einbildete.
»Haben Sie sich verirrt?«, wiederholte der Bandati. »Gerade als ich zu Ihnen unterwegs war, um mit Ihnen zu verhandeln, kletterten Sie aus der Tür Ihres Hauses, und dann wählten Sie eine höchst ungewöhnliche Methode des Abstiegs. Gab es dafür einen bestimmten Grund?«
Corso hustete, um seine Lungen von dem eingedrungenen Staub zu befreien. Allmählich gewöhnten sich seine Augen an die trüben Lichtverhältnisse in dem Gebäude. »Ich wollte weg. Ich versuchte, aus diesem Loch herauszukommen.«
Das Wesen surrte mit den Flügeln, und erst später erfuhr Corso, dass dies eine Geste war, die höchste Verwirrung andeutete. »Bitte, ich muss Sie ersuchen, den Sinn einer solchen Aktion näher zu erläutern.«
Offenen Mundes starrte Corso den geflügelten Alien an; erst jetzt dämmerte ihm die verblüffende Erkenntnis, dass dieser spezielle Bandati sich viel besser mit ihm verständigen konnte als sämtliche anderen Mitglieder dieser Spezies, denen er bis jetzt begegnet war.
»Ich wollte fliehen, du blöder, elender, abgefuckter Alien!«
»Fliehen?«
»Ja!«, kreischte Corso, ehe er von einem Hustenkrampf geschüttelt wurde. »Fliehen, verdammt nochmal!«
Eine geraume Zeit herrschte Schweigen zwischen ihnen. Dann fragte das Wesen: »Und wohin wollten Sie fliehen?«
Wie es sich herausstellte, hatte doch jemand Corsos gebrüllte Kooperationsangebote gehört.
Grob übersetzt bedeutete der Duftname der Kreatur, die Corso an diesem Morgen auf der Turmplattform getroffen hatte, »Duft von Honigtau, in der Ferne Grollendes Sommergewitter«. Honigtau war eine Mischung aus Lehrer, Touristen-Guide und Linguist, darauf erpicht, so viel wie möglich über Corso in Erfahrung zu bringen. Er hatte sich tatsächlich auf den Weg gemacht, weil er mit dem Freistaatler einen Kontakt knüpfen wollte, und war just in dem Moment eingetroffen, um dessen gescheiterten Fluchtversuch zu beobachten.
Offenbar waren die sporadischen Folterungen endgültig vorbei.
Im Verlauf der
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