Liebe 2.0
noch
genau, wie Sven sich vor Jahren an meinem ersten Praktikumstag aufgeplustert
hat und ganz den erfrischend-witzigen Kumpel gab. So wie Betty Blond da vorne
saß ich schüchtern inmitten der Runde und dachte mir, was für ein lustiger,
sympathischer Haufen so eine Radioredaktion doch sei. (Ich muss wohl nicht
erwähnen, dass Nathalie in der besagten Woche Nachmittagsschicht hatte.) Als
ich dann aber ein paar Mal Svens plumpen Annäherungsversuchen ausgewichen bin,
war es mit der lockeren Atmosphäre schnell vorbei. Es folgten dreieinhalb
Wochen Praktikumshölle mit zweideutigen Sticheleien und ätzenden Aufträgen wie
etwa einer Fußgängerzonenumfrage zum Thema Geschlechtskrankheiten. Vielen
Dank für Ihre Offenheit – und denken Sie daran: Nicht kratzen, waschen! Ich
war heilfroh, als ich zum letzten Mal die Tür der Redaktion von außen hinter
mir zumachen durfte. Und jetzt sitze ich wieder hier. Déjà-vu.
Sven ist
mittlerweile schon ein paar Themen weiter und referiert über den aktuellen
Vampir-Trend. „Da könnten wir gut was aufbauen. Mit ein paar düsteren Legenden
der Region vielleicht. Und zu Halloween geben wir dann ein Twilight -Special
für unsere Hörer im Kino! Man müsste Gerhard diesbezüglich mal ansprechen.“
O, o, nicht
ausgerechnet heute das Thema „Kino“…
„Nun, solange
wir bis dahin einen kompetenteren Praktikanten haben als Max, dürfte sich das
machen lassen“, schaltet Nathalie sich auch just ein. Endlich hat sie ihre
Revanche. Wie gut, dass wir alle erwachsen sind!
„…Und dann hätte
ich da noch ein Interview mit Martin Egger“, lenkt Sven die Aufmerksamkeit
sofort wieder auf sich. „Der hat jetzt sein drittes Buch geschrieben und geht
auf Lesetournee. Hat gute Kritiken gekriegt, der Mann.“
Thomas runzelt
die Stirn. „Sven, seit wann machen wir denn einen auf Kultur?“
Typisch! Da hat
Sven einmal eine gute Idee, und sie fällt prompt durch die FSK unseres
Senders. Begründung: Zuviel Anspruch. Achtung, Achtung! Das Hören der
nachfolgenden Sendung erweitert Ihren Horizont! Übermäßiger Konsum führt
möglicherweise zu erfolgreichem Abitur und Interesse an Allgemeinbildung! Bitte
beachten Sie, dass Totallokal für etwaige Folgekosten wie
Studiengebühren und Opern-Abo nicht aufkommt!
„Naja, er kommt
immerhin von hier, ist also quasi ein regionales Thema“, geht Sven prompt in
die Defensive. „Und ich denke schon, dass er damit auch unser Zielpublikum
interessieren könnte.“ Bei diesem Zusatz zwinkert Sven seinem persönlichen
Zielpublikum in Gestalt der schönen Unbekannten zu.
Astrid und ich
gucken uns genervt an, und ich bin kurz davor, aufzuzeigen und auch noch ein
Thema beizutragen, nämlich Svens Profilneurose. Eigentlich komisch, dass da
bisher noch keiner drauf gekommen ist. Warum in die Ferne schweifen, wenn
das Gute liegt so nah … hat schon Goethe gesagt. Und der musste es doch
wissen!
Tatsächlich frage ich mich, wieso ein derart publikumsgeiler Typ wie Sven
nicht schon längst bei irgendeinem Privatsender angeheuert hat. Hm.
Wahrscheinlich ist er denen einfach zu hässlich. Aber Oliver Pocher hat es doch
auch geschafft, und der ist nicht mal gut. Sven hingegen gehört ohne Frage zu
den Könnern in seinem Metier. Und aus eben diesem Grunde gehöre ich nicht
hierher. Definitiv.
Während Sven uns weiter seinen Plan
darlegt, wie er die Weltherrschaft an sich reißen will, sinniere ich darüber,
wie es nur so weit kommen konnte, dass ich schon wieder/Schrägstrich/immer noch
hier sitze. In einem Job, bei dem die Bezahlung noch unter dem Niveau der
Beiträge liegt, und bei dem ich mir tagtäglich ein bis zwei Beine ausreiße, um
über irgendetwas Unbedeutendes zu berichten, das dann drei Stunden später auch
noch veraltet ist.
Ich hasse so
etwas. Ich bin kein schnelllebiger Typ. Einmal Wagner, immer Wagner , das
ist mein Motto. Ich weiß gerne, was auf mich zukommt, und schätze
Halbwertszeiten in den Dimensionen von Plutonium. Das ist gar nicht mal so
verwunderlich, wenn man bedenkt, dass mein Leben fast sechsundzwanzig Jahre
lang in geregelten Bahnen verlief: Eine schnurgrade Strecke, auf der es
keinerlei böse Überraschungen gab und man bei gutem Wetter sogar schon von
einer Station zur nächsten blicken konnte. Kindergarten – Schule – Uni.
Fahrradfahren – Seepferdchen – Führerschein. Verliebt – verlobt – verheiratet…
Zugegeben: Auf
den letzten Etappen wurde das Gleisbett zunehmend ruckeliger. Aber dass die
Bahngesellschaft
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