Liebe auf den ersten Biss
der uringetränkte Trainingsanzug nicht an seine Haut kam. Er mochte in seinen achthundert Jahren alles erlebt haben, was an Dreck und Blut nur denkbar war, und er hatte sich schon tagelang nackt in lehmiger Erde versteckt, um der Sonne zu entgehen, doch er konnte sich nicht erinnern, dass ihn jemals irgendetwas derart angewidert hätte, wie von seinem Mittagessen angepinkelt zu werden. Vielleicht lag es daran, dass er nichts anderes anzuziehen hatte und sich auch nicht mehr auf seine Luxusjacht mit Schränken voller Kleider zurückziehen konnte, oder vielleicht lag es auch daran, dass er den Tag unter der vollgepissten Matratze eines scheintoten Junkies verbracht hatte, während die Polizei das Hotel um ihn herum durchsuchte. Er stieß nur an seine Grenzen, das war alles.
Er hatte gewusst, dass der Mann an der Rezeption die Polizei rufen würde, und deshalb hatte der Vampir, sobald er in seinem Zimmer war, den Trainingsanzug in einer Ecke vom Schrank versteckt, sich in Nebel verwandelt und war unter der Tür hindurch ins Nachbarzimmer geschwebt, um sich unter der Matratze eines weggetretenen Junkies zu verstecken. Als ihn dann der Sonnenaufgang ausschaltete, hatte er wieder seinen festen Zustand angenommen.
Bei Sonnenuntergang stellte er erleichtert fest, dass der Trainingsanzug noch im Schrank lag, nachdem er sich an dem Junkie gütlich getan (nur einen Schluck) und ihm das Genick gebrochen hatte. (Was mehr oder weniger ein kleiner Gruß an diese Leute von der Mordkommission war, die ihn gemeinsam mit den anderen im Jachtclub überfallen hatten.) Jetzt war sein schicker Trainingsanzug vollgepisst, und er war stinksauer.
Er ging zu dem Penner und riss ihn am Knöchel hoch. Für heutige Verhältnisse war Elijah nicht gerade groß, aber wenn er den Mann am ausgestreckten Arm hoch über seinen Kopf hielt, konnte er ihn gebührend durchschütteln.
»Du bist noch nicht mal ihr Lakai, oder?« Elijah schlug den Penner mit dem Kopf an den Bürgersteig, um seine Frage zu untermauern.
»Bitte!«, rief der Penner. »Mein fetter Kater …«
Wump, wump, wump an den Bürgersteig. Einmal durchschütteln. Kleingeld regnete aus den Taschen des Penners, ein paar Scheine, ein Feuerzeug und eine Flasche Whiskey.
»Du bist nur ihre lebende Blutkonserve, was? Ich kann sie an dir schmecken.«
»Da ist ein Mädchen«, sagte die Blutkonserve. »Ein unheimliches, kleines Mädchen. Sie kümmert sich um die beiden.«
»Zwei?«
Elijah schleuderte den Penner gegen das Garagentor und sammelte das Kleingeld und die Scheine vom Gehweg. Daneben ging die Stahltür auf, und ein kräftiger Kahlkopf im Overall kam heraus, mit einem Brecheisen in der Hand. »Findet ihr zwei Arschkrampen euch eigentlich laut genug?«
Elijah zeigte seine Zähne und fauchte den Biker an, dann sprang er an die Wand über dem Garagentor und blieb kopfüber hängen, direkt über dem Biker.
Der Biker sah den Vampir an, dann den Penner am Boden, schließlich den demolierten Mazda. »Ich seh schon …«, sagte er. »Ihr Jungs habt was zu klären.« Damit verschwand er in der Gießerei und knallte die Tür hinter sich zu.
Elijah ließ sich auf die Füße fallen und rannte die Straße hinauf, sparte sich die Mühe, dem Penner das Genick zu brechen. Wie hatte er so einfältig sein können? Es brachte nichts, wenn er ihre Milchkuh tötete. Er musste ihrem Lakaien drohen, genau wie er es mit dem Jungen gemacht hatte. Wie hätte er ahnen sollen, dass sie ihn tatsächlich hintergehen und den Jungen wählen würde? Ihn sogar verwandeln? So etwas würde nie wieder vorkommen.
Trotz der Wut, des Hungers und der Begeisterung, ein Ziel vor Augen zu haben, konnte Elijah Ben Sapir doch einen leisen Kummer nicht verleugnen. Zu Beginn seines Abenteuers hatte er sich als Marionettenspieler gesehen, jetzt hatte er sich in den Fäden verheddert. Machte Fehler.
Halb so wild. Er neigte seinen Kopf und konzentrierte sich. Neben dem rasselnden Atem der Blutkonserve, dem Summen der Bay Bridge und dem Pochen der tausend Herzen in den Wohnungen überall um ihn herum, nahm er die hastigen Schritte des kleinen Mädchens und ihres Freundes wahr.
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DIE CHRONIKEN DER ABBY NORMAL:
Die Gehetzte
Offenbar bin ich die Gehetzte, wofür ich, wie ich an dieser Stelle bemerken möchte, nicht gänzlich qualifiziert bin. Hier sitze ich, kauere zwischen den Sparren (ich glaube, diese Dinger heißen Sparren) der Oakland Bay Bridge wie ein verkrüppelter Vogel der Nacht und warte darauf, dass das
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