Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
vorstellte, als ich in dem Gasthof eintraf. Das hätte er bestimmt nicht getan, wenn wir uns vorher schon gekannt hätten, oder?«
Sie merkte, wie Molly ins Grübeln geriet.
»Und was du vorhin von Liebe und In-mich-verliebt-sein gefaselt hast, das stimmt auch nicht. Das hab ich zufällig von ihm selber gehört. Da ich in dieser Pseudo-Hochzeitsnacht einen Albtraum hatte und aus dem Schlaf hochschreckte, bin ich aufgestanden und hab nach ihm gesucht. Als ich die Verbindungstür zwischen unseren Zimmern aufdrückte, hörte ich, wie er dem Schankmädchen – Beth, ich glaube, so hieß sie – vorschwärmte, dass sie ein hübsches Mädel mit üppigen Brüsten sei. Seine Frau sei dagegen flach wie ein Bügelbrett und hässlich wie ein ausgetretener Schuh, nörgelte er. Und als das Mädchen ihn fragte, warum er mich dann überhaupt geheiratet hatte, erklärte er ihr breit grinsend, ich hätte zwar keine dicken Brüste, aber dafür einen dicken Geldbeutel. Er umgarnte sie weiter, schwindelte ihr vor, sie wäre der Grund, weshalb er die Ehe nicht vollzog. Diese lästige Pflicht wollte er auf den nächsten Tag verschieben, wenn wir auf dem Schiff gewesen wären und er sich von seiner Nacht mit der Schankdirne erholt hätte. ›Dabei stell ich mir vor, dass ich es mit dir treibe, Beth, und nicht mit der dummen Pute‹, lachte er gehässig.
Dann besorgte er es ihr, und ich schloss leise die Tür, denn ich konnte es nicht mit ansehen. Seine Unersättlichkeit schien sich nicht bloß auf Geld zu beschränken. Hätte er sich mehr unter Kontrolle gehabt und die Hochzeitsnacht mit mir verbracht, hätte er damit seinen Hals gerettet.« Clarissa hob die Schultern und ließ sie milde resigniert wieder sinken. »Es ist, wie es ist. Ich jedenfalls bin ewig dankbar, dass ich damals flach wie ein Bügelbrett war. Und dass uns Vaters Leute so schnell entdeckten.«
»Lügen, alles Lügen«, schnaubte Molly und hob die Hand mit dem Brieföffner.
»Von wegen Lügen. Du warst doch dabei. Ich war den ganzen Weg von London nach Gretna Green niedergeschlagen und hab mich gefügt … bis zum letzten Morgen. Hast du nicht gemerkt, wie unglücklich ich dabei war? Dass ich flehte und bettelte, weil ich nach Hause wollte? Dein Bruder schnauzte mich an, ich solle mich nicht so anstellen. Als es ihm zu viel wurde, hat er mir ins Gesicht geschlagen. Erinnerst du dich etwa nicht mehr?«
Molly nagte unschlüssig an ihrer Unterlippe und ließ die Hand mit dem Brieföffner sinken. Allmählich wurde das, was Clarissa ihr schilderte, in ihrem Kopf wieder lebendig.
»Ja«, murmelte sie gequält. »Sie wirkten sehr bedrückt, von Anfang an, bis …«
»Bis zu jenem letzten Morgen, dem Morgen nach der Hochzeitsnacht, die keine war.«
Der Brieföffner sank noch ein Stückchen tiefer, und ein Hauch von Bestürzung schob sich in Mollys Züge. Als Clarissa jedoch aufstand, brachte Molly den Brieföffner hastig wieder in Angriffsposition. »Nein. Sie wollen mich austricksen. Er hat mich bestimmt nicht angelogen!«
Clarissa seufzte. »Nein? Bist du noch nie von einem Mann belogen worden, weil er etwas von dir wollte?«
»Aber nicht von Jeremy.«
»Er hat dich nie angelogen? Kein einziges Mal?«, bohrte Clarissa. »Auch nicht, um aus einem Schlamassel rauszukommen?« Als sich neuerlich Zweifel in die Züge der Zofe schlichen, versuchte Clarissa es mit einer anderen Taktik. »Wie war das noch gleich? Wann hat er mich kennengelernt und sich in mich verliebt?«
»Er erzählte mir, dass er Sie im Theater getroffen hat«, antwortete Molly vage, als rechnete sie mit einer Falle.
Um Clarissas Mundwinkel zuckte es amüsiert. »Da will er mich also kennengelernt haben? Unmöglich. Damals war ich noch nie in einem Theater gewesen. Ich war nämlich zum ersten Mal im Theater, als du mich dort gesehen hast. Das hab ich dir vor nicht mal zehn Minuten schon in aller Unschuld erzählt.«
»Und wenn Sie mich da auch schon angelogen haben?«, meinte Molly, ihre Stimme leise skeptisch.
»Warum sollte ich denn? Da wusste ich doch noch gar nicht, dass er mich angeblich im Theater kennengelernt hat.«
Molly schien wenig überzeugt, und Clarissa rutschte unbehaglich auf der Sesselkante herum.
»Ach Molly, sieh es doch endlich ein. Die Wahrheit ist: Dein Bruder war nicht der Gutmensch, für den du ihn gehalten hast.«
»War er wohl. Mein Jeremy würde nie so was tun. Er hat Sie ganz bestimmt geliebt.«
Die Züge der Frau spiegelten Angst und Verratensein. Clarissa empfand
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