Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
Joan lief damit nach oben. Clarissa beteuerte, sie habe ihrer Zofe die Brille versehentlich aus der Hand geschlagen, als sie die Bettdecke zurückwarf. Mittlerweile frage ich mich, ob das überhaupt stimmt, oder ob Joan sie absichtlich hat fallen lassen, weil Clarissa sie ohne Brille niemals wiedererkennen könnte.«
»Hmmm. Klingt ziemlich logisch«, grummelte Reg. »Aber warum wünscht Joan – oder, ähm, Molly, wenn sie tatsächlich Molly ist – Clarissa den Tod?«
»Fielding starb im Gefängnis«, erinnerte Adrian seinen Cousin, währenddessen führten sie die gesattelten Pferde aus dem Stall. »Vielleicht macht sie Clarissa für seinen Tod verantwortlich. Immerhin wurde er wegen der Sache mit Clarissa eingesperrt.«
»Verdammt«, knirschte Reg und schwang sich auf sein Pferd. »Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, aber gutes, ehrliches Personal ist heutzutage schwer zu kriegen. Schlimm genug, dass sie dich beklauen wie die Raben, aber dass sie einem nach dem Leben trachten? Es wird immer schöner!«
Adrian knurrte zustimmend, dann gab er seinem Hengst die Sporen und fiel in einen flotten Galopp.
Er war froh, dass sein Cousin ihm halbwegs verziehen hatte und mitkam; und er war so wütend, dass er die Zofe mit bloßen Händen hätte erwürgen mögen. Und sollte sie Clarissa in der Zwischenzeit auch nur ein Haar gekrümmt haben, würde er genau das tun. Nicht mal Reg könnte ihn davon abhalten.
20
»Komm ruhig rein, Joan, du brauchst doch nicht an der Tür zu warten«, murmelte Clarissa. Sie sah von dem Buch auf, das sie vorhin aus dem Regal gezogen hatte. Dummerweise konnte sie sich nicht wirklich auf den Inhalt konzentrieren, weil sie mit den Gedanken woanders war. Und zwar bei der Frau, die eben quer durch die Bibliothek auf sie zukam.
Joan und Keighley waren neben Adrian, Lydia und Reginald die einzigen, die in London gewesen waren und sich jetzt in Mowbray oder in der näheren Umgebung aufhielten. Clarissa glaubte keine Sekunde lang, dass Lydia oder Reg hinter den Unfällen stecken könnten, Adrian erst recht nicht. Blieben also bloß noch Joan und Keighley.
Joan war als Täterin wahrscheinlicher, denn Keighley war schon recht betagt. Clarissa konnte sich partout nicht vorstellen, dass der alte Mann in ihr Londoner Stadthaus einbrach und dort im Flur vor ihrer Zimmertür Feuer legte. Oder dass er im Park über das hintere Tor kletterte, wie Adrian es gemacht hatte, sich heimlich den Weg entlangschlich und sie bewusstlos schlug.
Joan wiederum brauchte gar nicht erst einzubrechen. Sie war ständig in Clarissas Nähe und wusste genau, wo ihre Herrin sich gerade aufhielt. Damit war ihre Zofe die einzig plausible Verdächtige.
Clarissas Problem war bloß, dass Joan nicht wirklich ein Tatmotiv hatte. Hinzu kam außerdem noch die Tatsache, dass sie das Mädchen mochte, überlegte sie seufzend.
Sie schloss ihr Buch, legte es beiseite und betrachtete Joan, die vor ihren Sekretär getreten war. Clarissas Augen hinter den Brillengläsern fokussierten sich scharf auf ihr Gegenüber. Sie hatte das Mädchen noch nie aus diesem Blickwinkel wahrgenommen. Jedenfalls nicht mit Brille. Sie bemerkte den kleinen Schönheitsfleck unter Joans Kinn. So einen Schönheitsfleck hatte sie schon einmal gesehen, an exakt der gleichen Stelle. Vor rund zehn Jahren.
Sie hob den Blick und musterte Joan genauer. »Was ist denn, Molly?«
»Ich wollte fragen, ob ich Ihnen eine Tasse Kakao oder Tee in die Bibliothek bringen darf.«
Clarissa presste die Lippen aufeinander. Joan hatte nicht mal bemerkt, dass sie sie mit Molly angesprochen hatte. Das und der Schönheitsfleck waren ihr Beweis genug. »Nicht, wenn das Getränk vergiftet ist wie die Torte – Molly«, wiederholte sie.
Die Zofe erstarrte, ihre Züge entgleisten, und ihre Augen blickten plötzlich gehetzt wie die einer gefangenen Raubkatze. »Sie wissen es!«
»Ich weiß, wer du bist, ja.« Clarissa nickte. »Aber nicht, warum du versuchst, mich umzubringen.«
Molly Fielding ließ die Arme an den Seiten herunterhängen, ihre Hände ballten sich zu Fäusten. »Wegen meinem Bruder.«
»Jeremy«, murmelte Clarissa. Sie erinnerte sich an Captain Fielding. In seiner Uniform hatte er eine blendende Figur abgegeben. Zumindest hatte sie das damals gedacht. Inzwischen fand sie, dass er Adrian bei Weitem nicht das Wasser reichen konnte.
»Und wegen meiner Mutter«, setzte Molly hinzu.
»Ich hab eure Mutter nie kennengelernt.«
»Als Jeremy festgenommen wurde
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