Liebe auf den zweiten Blick (German Edition)
Ankunft in London versucht«, räumte Clarissa milde gereizt ein. »Ich kam nach unten, mit Brille und in meiner Abendrobe, denn wir wollten zu dem Ball von Lord Findlay. Lydia tobte. Sie riss mir die Brille von der Nase und zerbrach sie direkt vor meinen Augen. Ich bekam die Katastrophe aus nächster Nähe mit!«
»Sie hat Ihre Brille zerbrochen?« Er wirkte sichtlich schockiert über die brachialen Methoden, zu denen ihre Stiefmutter griff.
Clarissa nickte ernst. »Lydia kann zur Furie werden, wenn man ihr nicht gehorcht.«
»Aber wie kommen Sie denn zu Hause zurecht, nachdem sie Ihre Brille kaputt gemacht hat?«, fragte er zweifelnd.
»Es geht, so lala.« Clarissa verzog das Gesicht zu einer Grimasse und räumte ein wenig deprimiert ein: »Ich bin eigentlich dauernd auf irgendwelche Dienstboten angewiesen. Das ist ziemlich lästig.«
»Das kann ich mir vorstellen«, murmelte er.
»Hmmm, aber viel schlimmer ist, dass ich ohne meine Brille völlig aufgeschmissen bin. Ich kann weder handarbeiten noch Blumen zu einem hübschen Strauß binden … oder so etwas. Es ist unmöglich für mich, etwas zu lesen. Wenn ich mir das Buch so dicht vor die Augen halte, dass ich die Buchstaben entziffern kann, bekomme ich schon nach kurzer Zeit Kopfschmerzen. Es ist sooo langweilig. Ich kann nichts weiter tun als rumsitzen und Löcher in die Wände starren.«
***
Adrian betrachtete sie mitfühlend, ein kleines Lächeln umspielte seine Mundwinkel. Er fand es reizend, wie sie schmollend die Lippen verzog. Sie war bezaubernd hübsch, wenn auch nicht im üblichen Sinne. Ihre Lippen waren eine Spur zu üppig für das gängige Schönheitsideal, aber er fand sie ziemlich verführerisch, und Clarissas kecke Stupsnase war einfach niedlich. Tief versunken in seine Betrachtungen nahm er beiläufig wahr, dass das Orchester einen Walzer anstimmte. Er begann, sie über das Parkett zu schwenken, während sein Blick weiter an ihren Lippen klebte. Sie erzählte ihm von den Pannen und Problemen, die sie ohne Brille hatte. Es war eine lange Liste. Das Ankleiden sei schwierig, erklärte sie, und sie müsse sich voll auf den guten Geschmack ihrer Zofe verlassen. Sie wisse nie wirklich, wie ihre Frisur aussah, worauf er ihr versicherte, dass ihre Frisur perfekt sei und ihr Kleid hinreißend.
Indes war die Dame nicht auf Komplimente aus, denn sie winkte entschieden ab. Stattdessen verriet sie ihm leicht errötend, dass ihre Zofe sie wie ein Blindenhund durch das Haus geleitete, um zu verhindern, dass sie Stufen hinunterstürzte oder gegen irgendwelche zu spät entdeckten Hindernisse prallte. Ein weiteres peinliches Problem sei, dass sie Leute verwechsle, obwohl sie, wie sie ihm schnell versicherte, Stimmen sehr gut unterscheiden könne. Beim Essen würde sie sich gelegentlich die schönen Spitzenkragen bekleckern – logischerweise nur, wenn sie allein sei, da sie ja mittlerweile nicht mehr in Gesellschaft essen und trinken dürfe. Folglich habe sie beschlossen, beim Essen immer ein Lätzchen zu tragen, um ihre feine Garderobe zu schützen!
Adrian biss sich auf die Lippe, sonst hätte er womöglich laut losgewiehert: die süße Clarissa mit einem Schlabberlatz – allein die Vorstellung war ein Anschlag auf seine Lachmuskulatur. Er wurde indes schnell wieder ernst, als sie ihm gestand, sie habe bei dem Versuch, Kerzen anzuzünden, schon mehrmals fast das Stadthaus der Familie in Brand gesetzt. Sie stieß andauernd mit dem Butler oder anderen Angestellten zusammen und war überzeugt, dass das Personal sie deshalb nicht ausstehen konnte. Sie war sich sicher, dass sie sich über ihre Missgeschicke schlapplachten, und hatte heimlich aufgeschnappt, dass sie ihre junge Herrin als eine wandelnde Katastrophe auf zwei Beinen bezeichneten.
Das alles bekannte die junge Lady im aufgeräumten Plauderton. Adrian kämpfte krampfhaft einen Heiterkeitsanfall nach dem anderen nieder. Als ihr sein höflich unterdrücktes, asthmatisch anmutendes Japsen auffiel, meinte sie lachend: »Lachen Sie ruhig.« Er war über sich selber verblüfft, als er befreit in ihr Gelächter einstimmte. Es war lange her, dass er sich so blendend unterhalten hatte, und er fand seine Tanzpartnerin zunehmend sympathisch. Sie war ein erstaunliches Persönchen: charmant, bezaubernd und bewundernswert gelassen, was ihre Missgeschicke betraf. Ja, in Clarissas Gegenwart lebte er förmlich auf, und sein Herzschlag beschleunigte sich, befeuert von seiner inneren Erregung.
»Sie haben eine
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