Liebe im Schnee
Hände. »Müssen wir die ganze Nacht hier hängen, Jan, wie Fledermäuse?«
»Natürlich nicht. Das heißt...« Ein entsetzlicher Gedanke zuckte durch sein Hirn: wenn es nun keine Stromsperre war? Wenn man den Lift einfach abgeschaltet hatte, weil man annahm, daß der letzte Benutzer die Talstation längst passiert hatte? Mein Gott, das mußten die sogar annehmen! Der Liftwart von der Bergstation konnte nicht wissen, daß sie noch eingestiegen waren.
Jan Kiekebusch spürte, wie ihm ein Schweißtropfen langsam den Rücken hinabrann.
»Isch glaube, wir rufen jess Hilfe«, sagte Trine, die immer für das Praktische war.
»Ich weiß nicht, es ist so dramatisch.«
»Wenn es aber hilft.« Trine legte ihre Hände vor den Mund und schrie in alle vier Himmelsrichtungen: »Om hjaelp! Om hjaelp! Om hjaelp!«
»Om hjaelp! Om hjaelp!« antworteten die Berge im besten Dänisch.
»Wenn nun kein Däne vorbeikommt, Trine«, gab Jan zu bedenken.
Schrie Trine also auf deutsch um Hilfe. Deutsch konnten die Berge selbstverständlich auch. Sonst aber antwortete niemand.
Außer einer Krähe, die mit heiserem Quorr-quorr über die Lichtung strich.
Als eine Stunde vergangen war, zeigte es ich, daß in Jan Kiekebusch mehr steckte, als man gemeinhin vermutet hätte. Er erhob sich wortlos, stieg auf die Eisenlehne des Sessels, griff nach dem stählernen Umlaufseil und begann, sich Hand um Hand auf die etwa dreißig Meter entfernte Zwischenstütze vorzuarbeiten.
»Jan, ach bitte, Jan, komme ssurück, du stürssest ssu Tode!« jammerte Trine hinter ihm her.
Jani keuchte ein kurzes, aber herrisches »Ruhe jetzt!« und kletterte, gewaltig schlingernd, Stück für Stück weiter.
»Rief da nicht jemand um Hilfe?« fragte Kirsten Bremer und stützte sich keuchend auf ihre Stöcke. Sie hatte darauf bestanden, noch einmal die Reiteralm zu machen, und war jetzt ziemlich fertig.
»I hör nix«, sagte der Florian. Er schob die rote Teufelsmütze von den Ohren und lauschte.
»Da ist es wieder!«
Deutlich hörten sie jetzt das hallende »Hjaelp-Hjaelp-Hjaelp!« Es kam von der Waldschlucht her, durch die der Sessellift führte. Sie glitten mit ihren Skiern auf die Schlucht zu. Alle hundert Meter blieben sie stehen, um zu lauschen. Sie erreichten den Rand der Schlucht. Die Hilferufe waren jetzt verstummt. Sie fuhren aufs Geratewohl einen schmalen Holzweg hinab und kamen auf eine Lichtung. Direkt über ihnen hingen die Sessel des Madelejochlifts.
Und da war wieder der Hilferuf. Eine Frau schrie gellend. Ihre Köpfe fuhren herum.
Gegen den noch hellen Abendhimmel zeichnete sich die dunkle Gestalt eines Mannes ab. Seine Hände umkrampften das Umlaufseil, seine Beine strampelten über dem Abgrund. Drei Meter von ihm entfernt ragte eine der stählernen Zwischenstützen. Es sah aus, als arbeite ein Hochseilartist an seiner neuesten Nummer.
»Hilfe, ich..., ich kann nicht mehr, ich...«, stöhnte der Hochseilartist.
Kirsten hatte jetzt auch die Frau bemerkt. Sie stand auf der Lehne einer der Doppelsessel, rief in mehreren Sprachen um Hilfe, und gab zwischendurch gute Ratschläge.
»Mach einen Klimmssug! Kannst du nischt deine Knie rum-slingen um das Seil. Oh, du gode gud, was soll es werden. Forsigtig, Jani, giv agt!«
Du guter Gott, das war Trine! In ganz Himmelsjoch hatte nur Trine diesen schönen Akzent. Und der Hochseilartist, der da ohne Netz arbeitete, war Jan Kiekebusch.
Jan hing jetzt nur noch mit einer Hand am Seil.
»Lass net aus!« schrie der Florian beschwörend.
Kiekebusch schien das falsch verstanden zu haben. Vielleicht konnte er auch kein Bayrisch. Auf jeden Fall ließ er das Seil los. »Pfluuuuppp!« machte der Schnee, als er darin verschwand.
Kirsten erwachte aus ihrer Erstarrung. Keine Minute mehr durfte sie hierbleiben. »Ich hole Hilfe«, rief sie dem Florian zu, »ich fahre ab zur Talstation.«
Und ehe er etwas antworten konnte, war sie davon...
»Nun, wen hätten wir denn da«, sagte Doktor Hacks und rieb sich unternehmungslustig die Hände. Er warf einen fachmännischen Blick auf die käsebleiche Gestalt auf der Bahre. »Ich sage ja, das Wedeln, diese absolut körperwidrige Wedelei.«
»Herr Doktor, isch muß Sie gestehen ...«, fing Trine an.
»Ich weiß, ich weiß. Natürlich keine Sicherheitsbindungen. Oder falsch eingestellt.« Er zog mit einem Ruck die gelbe Pferdedecke vom Körper des Patienten. »So, nun sind wir mal ganz, ganz brav und sagen, wo es uns weh tut.« Seine Stimme bekam das sanfte Timbre
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