Liebe im Zeichen des Nordlichts
Bündel, in eine violette Angoradecke gewickelt und eine Wollmütze tief über Ohren und Stirn gezogen. Ihre Mutter ging die Vortreppe hinauf. Oben blieb sie stehen und drehte sich zum Meer um.
Ihr Vater hatte die Tür bereits geöffnet und war in den Flur getreten. Er winkte ihre Mutter heran. »Herrje, so komm schon endlich rein«, sagte er. »Bei dieser Kälte holst du dir ja den Tod.«
Aber ihre Mutter verharrte noch einen Moment mit Addie in den Armen auf der Vortreppe und atmete tief die kalte Meeresluft ein. Nach dem stickigen, überheizten Krankenhaus war es himmlisch, und sie konnte gar nicht genug davon kriegen. Dabei dachte sie gar nicht daran, dass ihre neugeborene Tochter ebenfalls diese salzige Luft einsog, die bis tief hinunter in ihre schwammige kleine Lunge drang. Und so war ein Teil davon wahrscheinlich auch in ihre Seele geraten.
Genauso fühlt Addie sich jetzt, nämlich als ob der Strand ein Teil von ihr wäre. Er ist ein ganz besonderer Ort für sie und vermutlich das, was verhindert, dass sie den Verstand verliert.
So früh am Morgen ist der Strand menschenleer. Niemand ist hier, außer ihr und dem kleinen Hund. Es herrscht Ebbe. Die Wolken hängen so tief über dem Sand, dass man fast spüren kann, wie sie einem auf den Kopf drücken. Der Wetterbericht sagt Regen voraus, doch bis jetzt ist noch nichts davon zu spüren.
Addie steuert schnurstracks aufs Wasser zu. Inzwischen ist sie schon fast einen Kilometer weit gekommen, ohne dass das Meer näher gerückt wäre. Offenbar hat die Ebbe ihren Höhepunkt erreicht. Da sie mittlerweile auf immer mehr Pfützen stößt, geht sie nicht weiter; schließlich will sie keine nassen Füße bekommen. Allmählich wird es kalt. Sie hätte besser ihre Stiefel anziehen sollen. Doch sie hat es nicht getan. Sie trägt lieber Turnschuhe. So kann sie die Wellen im Sand durch die Sohlen spüren. Der harte Sand unter ihren Füßen sorgt dafür, dass sie sich geerdet fühlt.
Schon ihr ganzes Leben lang hat Addie den Eindruck, dass eine schwarze Wolke sie verfolgt. Inzwischen glaubt sie, dass diese Wolke sie endlich eingeholt hat. Nur am Strand hat sie die Möglichkeit, schneller zu laufen als die Wolke.
Am Strand kann sie auch Selbstgespräche führen. Sie kann die Lieder auf ihrem iPod mitsingen, ohne dass sie jemand hört. Sie kann auch schreien, wenn sie will, und manchmal tut sie es. Sie schreit, und dann lacht sie sich deshalb selbst aus. Am Strand kann sie über alles nachdenken, was geschehen ist. Sie kann die Ereignisse in ihrem Kopf hin und her schieben und heiße Tränen des Selbstmitleids vergießen. Sie hat zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie in Gegenwart des Hundes weint, aber anschließend geht es ihr viel besser. Sie ist beinahe zufrieden.
Der Hund gräbt vor ihr im Sand nach etwas, das gar nicht da ist. Er schaufelt den nassen Sand mit den Vorderpfoten hoch und wirft ihn zwischen den Hinterbeinen hindurch. Hinter ihm hat sich ein großer Haufen gebildet, und sein ganzer Bauch ist schmutzig, doch das scheint ihn nicht zu stören. Addie steht da und beobachtet, wie sich der Hund vergebens abmüht. Soll er doch, sagt sie sich. Wenn es ihn glücklich macht!
Addie legt den Kopf in den Nacken und betrachtet den Himmel. Sie mustert ihn, als suche sie etwas dort oben. Sie denkt, dass sie gerne ins Weltall fliegen und sich die Erde von dort aus anschauen würde. Wenn sie die Möglichkeit hätte, die Welt von außen zu sehen, könnte sie sich vielleicht ein besseres Bild von ihrer eigenen Lage machen.
Sie dreht sich zum Ufer um. Selbst von hier kann sie das Haus ausmachen. Es ist das beigegraue in der Mitte einer blass pastellfarbenen Häuserzeile. Drei große Fenster mit Meerblick, zwei oben, eins unten.
Sicher sitzt er am unteren Fenster. Sie kann ihn zwar von hier aus nicht sehen, weiß aber, dass er da ist und sie beobachtet. Deshalb hat sie keine Lust, wieder hineinzugehen.
Sie nimmt den iPod aus der Tasche und blättert das Menü durch. Es dauert eine Weile, das Gesuchte zu finden. Nachdem sie ein Stück ausgewählt hat, sichert sie das Gerät, damit sich nichts verstellt, bevor sie es wieder einsteckt. Dann strafft sie die Schultern, hält das Gesicht in den Wind und wartet darauf, dass die Musik anfängt.
Es ist eine Sopranarie, und Addie ist alles andere als ein Sopran. Das hindert sie jedoch nicht daran, einzustimmen. Sie singt kräftig mit und stellt sich vor, dass jeder Ton sitzt.
»I know that my redeemer liveth …«
Sie hat zwar
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